3. Kapitel: Familie

Ich finde, wir sollten jetzt anfangen!“ Der Vater rückte seinen Stuhl zurecht. Seine Kieferknochen bewegten sich, als ob sie bei geschlossenen Zähnen etwas kauen wollten. Er trug einen dunkelbraunen Anzug, hatte aber auf eine Krawatte verzichtet. Auch die anderen hatten sich fein gemacht, mit einem kleinen Zugeständnis, leger zu bleiben, weil man unter sich war.

Vielleicht sollten wir noch kurz warten, Arnulf. Rebekka kommt bestimmt gleich. Die Mutter lächelte ihn an und zupfte ihre cremefarbene Bluse zurecht.

Maria, du verlierst auch nie den Glauben an die Menschheit. Thomas und Constanze haben sich Mühe gegeben mit dem Essen und ich hab keine Lust auf zähen Braten. Wenn Madame nicht rechtzeitig kommt, ist das ihr Problem. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Ich hol schon mal die Suppe, sie kann dann ja gleich mit dem Hauptgang weitermachen, wenn sie kommt. Rebekka ist sowieso kein Fan von Suppen.

Constanze stand auf, ging in die Küche und füllte mit der Suppenkelle die Rinderbrühe in die Suppenterrine. Ein Fettauge schaute sie an und der würzige Duft stieg ihr in die Nase. Sie ließ die Suppenkelle in den Topf sinken, lief zur Spüle, beugte sich darüber und atmete tief durch. Nach ein paar Atemzügen richtete sie sich wieder auf, ging zurück zum Herd und füllte weiter Suppe ein. Dann trug sie die Terrine nach draußen und gab die Brühe in die Teller des Vaters und der Mutter. Plötzlich stand Thomas auf, sagte fürsorglich Ich sollte dir helfen und nahm ihr die Suppenkelle ab.

Er teilte Suppe an sich und Constanze aus, dann einen kleinen Löffel in Stefans Schüsselchen, neben dem das Kinderbesteck mit eingraviertem gestiefeltem Kater lag, das Stefan von den Großeltern zu Weihnachten bekommen hatte. Constanze rupfte eine Scheibe Weißbrot in kleine Stückchen und warf sie in die Suppe des Kindes. Die Bröckchen sogen sich mit der Suppe voll, so dass Stefan selbst löffeln konnte. Sie reichte Stefan das Löffelchen, das er sofort nahm und in den Suppen-Brot-Brei steckte.

Du isst ja schon so fein, mein Spatz!, rief die Mutter begeistert und Stefan schaute stolz.

Er kommt gut mit dem Besteck klar für sein Alter. Wir brauchen noch das Lätzchen, aber er ist ja auch erst zwei, antwortete Constanze und lächelte den Kleinen an. Dieser strahlte sie mit seinen roten Backen an und brachte einen Löffel des Essens sicher in seinen Mund. Nur ein kleiner Tropfen Brühe rann an seinem Kinn hinab.

Früh übt sich, was ein guter Esser werden will! Der Vater lachte schallend und musterte den Kleinen stolz. Auch Stefan begann zu lachen und auf einmal saßen sie alle lachend um den Tisch.

Danach löffelten sie schweigend die Suppe, nur unterbrochen vom Lob der Esser über die gute Brühe. Als die Teller fast leer waren, trat Thomas Constanze unter dem Tisch ans Schienbein. Sie schüttelte leicht den Kopf.

Warum nicht?, murmelte er ihr zu.

Wir warten auf Rebekka. Erst wenn alle da sind, flüsterte Constanze.

Das ist der doch eh egal, zischte Thomas zurück.

Was gibt es da zu flüstern vor den Gästen? Das Gesicht des Vaters hatte sich verdunkelt, die Mutter musterte sie besorgt und neugierig.

Wir haben etwas zu verkünden, platzte Thomas heraus und warf sich in Pose, um die Neuigkeit herauszuposaunen.

Beim Hauptgang oder wenn Rebekka da ist, wiederholte Constanze und starrte Thomas böse an.

Thomas schien unentschlossen, sein Blick zuckte zwischen den neugierigen Blicken der Eltern und Constanzes Starren hin und her. Es klingelte. Thomas sprang auf und ließ Rebekka herein. Aus dem Flur hörte man ärgerliches Gemurmel.

Pünktlichkeit lernt Madame auch nicht mehr! Die Vorspeise hast du verpasst, fuhr der Vater sie an, als Rebekka das Esszimmer betrat.

Ich hab es nicht so mit Suppe, antwortete Rebekka gelassen und ließ sich auf den freien Platz am Ende des Tischs fallen, so dass sie dem kleinen Stefan gegenüber saß. Der starrte sie verwirrt an und Rebekka fragte: Gell, kennst die Tante nicht mehr, hab ne neue Haarfarbe. Sie zupfte an den Strähnen an ihrer Schläfe und lächelte Stefan an. Stefan zögerte kurz und lächelte dann zurück.

Ja, blaue Strähnen verbessern sicher deine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Der Vater wischte sich mit einer fahrigen Bewegung den Mund ab und warf die weiße Stoffserviette wieder auf den Tisch.

Rebekka stieß ein Schnauben aus und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.

Schön, dass du da bist, sagte Constanze zu ihrer Schwester, begann die Suppenteller zu stapeln und brachte das Geschirr in die Küche.

Thomas wandte sich grinsend an Rebekka: Woran lag es denn diesmal? Gestern zu lange gefeiert? Nichts Sauberes mehr zum Anziehen? Uhr verlegt?

Nee, kein Geld für den Bus, ich bin gelaufen. Hab mich verschätzt.

Rebekka nahm die Stoffserviette vom Tisch und legte sie auf ihren Schoß.

Constanze rief Thomas in die Küche: Kannst du bitte den Braten aufschneiden, Schatz?

Thomas stand auf.

Wir hätten dich mitnehmen können, meinte die Mutter zu Rebekka.

Das wäre ein ganz schöner Umweg gewesen, knurrte der Vater.

Wollte ich euch auch gar nicht zumuten. Rebekka starrte zum Fenster hinaus. Draußen begann es zu nieseln.

Dann aber lieber zu spät kommen, schnauzte der Vater sie an. Immerhin ist Laufen gesund. Wir waren auch immer viel wandern. Aber dazu muss man früh aufstehen. Am besten wandert es sich in der guten Morgenluft!

Das Laufen war mir egal, ich hatte halt nur kein Geld für den Bus.

Constanze stellte die Spätzle und die Soße auf den Tisch, danach holte sie die Schüssel mit dem Rotkohl. Thomas brachte den Braten: Der ist bestimmt nicht zäh, der wird dir schmecken, Arnulf! Da ging das Messer durch wie durch Butter.

Das hat sie von mir, betonte die Mutter. Das Kochen liegt ihr im Blut. Sie war schon als Kind gern dabei, wenn ich gekocht habe. Da schaut man sich ganz nebenbei einiges ab.

Der Vater war immer noch auf Rebekka fixiert: Und wofür hast du dein Geld wieder ausgegeben? Immer ausgehen und feiern, wahrscheinlich kaufst du dir auch irgendeinen Quatsch. Rauchst du immer noch?

Du rauchst auch.

Rebekka starrte jetzt auf ihre Schuhe.

Ich rauche einmal die Woche eine Pfeife mit gutem Tabak! Das ist Genuss, nicht Sucht.

Arnulf, Rebekka, jetzt hört mal auf, hier ist auch was für den Genuss!, säuselte die Mutter und deutete auf den gedeckten Tisch. Kommt, ich tu euch mal auf!

Für mich nur Spätzle und Rotkohl, ich ess kein Fleisch mehr, sagte Rebekka.

Das Gesicht des Vaters wurde rot: Was ist denn das für ein neuer Mist? Immer eine neue blöde Idee in deinem Schädel! Fleisch gibt Kraft!

Keine Soße, Mutti, die ist ja bestimmt auch mit dem Bratensaft gemacht, oder?

Rebekka sah Constanze fragend an, diese nickte.

Die Mutter hielt verwirrt inne: Jetzt ist aber schon Soße drauf.“ „Dann nimm du dir doch den Teller, ich mach mir schon einen.“ „So ein Blödsinn aber auch!, schaltete sich der Vater wieder ein.

Stefan, dessen Lippen sich schon die ganze Zeit bedrohlich gekräuselt hatten, begann nun zu weinen. Constanze mahnte die Erwachsenen: Nicht so laut, das kennt Stefan so nicht.

Thomas griff nach der Weinflasche und fragte: Noch ein Gläschen, Arnulf?

Rebekka murmelte: Genau das, was er jetzt noch braucht.Arnulf schlug auf den Tisch, Stefan weinte noch heftiger.

Hier ist dein Teller, Arnulf, schau, sieht das Fleisch nicht lecker aus?, sagte die Mutter. Und jetzt hören wir alle mal Thomas zu. Er hat was zu verkünden!

Soll ich jetzt? Thomas schaute in die Runde. Constanze nickte. Die Mutter nickte.

Thomas räusperte sich gewichtig: Na gut, wenn nicht jetzt, wann dann. Den perfekten Moment gibt es nicht. Also: Constanze ist wieder schwanger!

Strahlend schaute er in die Runde.

Ach, das freut mich ja so, jauchzte die Mutter, griff über den Tisch und drückte Constanzes Hände.

Der Vater hob das Glas: Dann mal Gratulation zum Nachwuchs! Das habt ihr gut gemacht!

Glückwunsch, Schwesterherz.

Danke. Thomas meinte, wir sollten es gleich verkünden. Ich bin erst in der 8. Woche.

Ach, das wird schon“, meinte die Mutter. In unserer Familie gehen die Schwangerschaften immer gut. Wir sind da sehr robust. Das war schon bei deiner Urgroßmutter und deiner Großmutter so. Ich hatte auch nie Probleme. Das ist ja bei manchen Frauen schlimm, wenn der Körper kein Kind halten kann. Weißt du noch, die Nachbarin im Ostsee-Urlaub, Arnulf? Acht Fehlgeburten und dann erst ein Kind. Und der Kleine sah auch reichlich schwächlich aus. Da haben wir es gut, gell, Constanze?

Die Mutter strahlte übers ganze Gesicht: „Und dann sind die Kinder auch vom Alter nicht so weit auseinander. Außerdem bist du noch nicht zu alt. 30 ist noch ein gutes Alter. Hoffentlich wird es ein Mädchen, dann habt ihr einen Jungen und ein Mädchen.

Dann gehst du aus dem Erziehungsurlaub direkt wieder in den Erziehungsurlaub? Da habt ihr Lehrer es ja gut, bemerkte Rebekka.

Das musst du grad sagen, du Studienabbrecherin Schrägstrich Aushilfsbedienung Schrägstrich Möchtegern-Sängerin. Ich weiß noch, wie du hochnäsig gesagt hast: >Ich geh jetzt nach Berlin und mach Musik. Wartet nur, ich werd berühmt.< Und sechs Monate später warst du zurück., schnauzte Thomas in Rebekkas Richtung, ohne sie anzuschauen. Rebekka rollte die Augen.

Der Vater schaltete sich ein: Deine Schwester war eben klug genug, einen sicheren Beruf zu suchen und einen guten Mann zu heiraten, der genug Geld für beide heimbringt.

Ja, Vater, sind wir jetzt wieder an dem Punkt? Dann kann ich ja gleich gehen, konterte Rebekka.

Geh nur, immer schön abhauen, sich bloß keiner Situation stellen, mischte sich Thomas wieder ein.

Ach, halt die Fresse!

Rebekka, nicht vor dem Kind. Er weint eh schon, mahnte Constanze.

Rebekka stand auf. Schönen Tag noch!, motzte sie in die Runde und ging. Die lose Sohle ihres Stiefels schlappte bei jedem Schritt im Rhythmus mit. Im Flur knallte die Tür ins Schloss.

Sollen wir sie fahren? Die Mutter schaute sich unsicher in der Runde um.

Der Vater blickte sie entgeistert an: Nein, Maria, ganz bestimmt nicht!

Thomas räusperte sich: Eigentlich sitzen wir ja auch aus einem anderem Grund hier.

Genau!, rief die Mutter. Wir haben ja was zu feiern! Sie hob ihr Glas: Auf die glückliche Familie!

Auf die glückliche Familie!, wiederholten alle und hoben ihre Wein- und Wassergläser. Stefan schaute sich in der Runde um und hörte auf zu weinen.

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