DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – August 2003
Vom Loslassen können, Teil 2
Die Zeit vergeht wie im Fluge, dachte ich mir, als ich vor einigen Wochen mit Albert ein paar Fotoalben aus meiner Kinder- und Jugendzeit durchblätterte. Mit dem biederen Mädel mit langem Zopf hatte ich nicht mehr viel gemeinsam und wie schon so oft in den letzten Jahren war ich froh, nicht mehr 20 zu sein. Ich hatte mich damals noch so unfertig (aber wer von uns fühlt sich denn jemals fertig im Sinne von ausgereift das ist man doch nie wirklich!) gefühlt, so gar nicht reif nach der Matura. Bei manchen Aufnahmen hätte ich mich zerkugeln können, weniger über andere Schulkollegen als vielmehr über mich selber. Zum Glück konnte ich mich noch an die meisten Namen erinnern, und bei den Klassenfotos befand sich außerdem immer eine Liste, auf der ich nachschauen konnte.
Auf einem der Fotos stand ich neben einem hübschen brünetten Mädel, groß und schlank, das Albert eingehend musterte. Schließlich stieß er mich an. Wie heißt die noch mal? Ich stieß boshaft zurück. Gefällt sie dir? Geschieden, zwei Kinder. Ich glaube, sie hat jetzt wieder einen neuen Freund. Albert zwickte mich in den Oberarm. Das interessiert mich gar nicht. Wie sie heißt, möchte ich wissen, Scherzkeks. Da gab ich nach. Grit Seiberl, das heißt, das ist ihr Mädchenname. Sie heiratete relativ bald nach der Matura ihre erste Liebe, Gerd Benischko. War aber anscheinend nichts für die Ewigkeit, nach elf Jahren Ehe war es vorbei. Warum fragst du eigentlich wirklich? wurde ich schließlich neugierig. Albert ging auf meine Frage nicht ein. Und der junge Mann gleich neben ihr? Wer ist das? Ich musste schmunzeln. Andreas Dorninger wie er leibte und lebte. Groß, blond, stämmig und ein verschmitzter Gesichtsausdruck. Und wie er selbst auf diesem Foto durch einen unmissverständlichen Seitenblick nicht verbergen konnte, wie sehr er Grit verehrte… Erinnerungen kamen hoch in mir…
Er war also verliebt in das Mädel? Kann ich gut nachvollziehen, sie ist sehr hübsch gewesen… Albert war ein wenig nachdenklich geworden. Aber er hatte wohl keine Chance gegen diesen Gerd. Naja, er wird darüber hinweggekommen sein. Ich schwieg. Langsam tauchte ein Bild vor meinen Augen auf, wie eine anfangs noch blasse Fotographie und brachte mich zurück auf ein Maturatreffen vor einigen Jahren. Vor meinem geistigen Auge manifestierte sich ganz deutlich Grit Seiberl, geschiedene Benischko. Sie sah traurig aus und irgendwie gehetzt, und die Hand, in der sie die Zigarette hielt, zitterte leicht. Ich drehte mich zu Albert um. Sag das nicht! erwiderte ich leise. Sag das nicht, denn ich weiß, dass es nicht stimmt.
Albert bestand darauf, mehr zu hören, und ich versetzte mich wieder zurück in das 15jährige Maturatreffen, zu dem unser ehemaliger Klassensprecher, Erwin Mistlbacher, fast alle Kollegen zusammentrommeln hatte können. Auch ich, die ich Klassentreffen an sich hasse, hatte mich von ihm umstimmen lassen. Wohl aber auch nur aus dem einen Grund, weil ich damals noch sehr an meiner von Hermann verratenen Liebe zu ihm kaute, und aus einem inneren Bedürfnis heraus nach Abwechslung und Zerstreuung suchte. Und der nicht unrichtigen Meinung war, dass ich sie auf so einem Klassen-Meeting eher finden würde, als wenn ich weiter in meiner Wohnung grübeln würde, was ich denn falsch gemacht hätte….
Zufällig kam ich an diesem Abend in einem namhaften Linzer Lokal neben Grit zu sitzen. Wir sprachen anfangs kaum miteinander. Erwin kam einmal zu mir, legte mir den Arm um die Schulter, stellte mir ein Achterl Rotwein hin und flüsterte mir zu, ich möge doch nicht so endlos traurig schauen sondern lieber lachen, das stünde mir doch so viel besser. Ich musste darauf hin wirklich grinsen, gab ich zu, … und nach ein paar Schlucken Rotwein kam ich wirklich etwas ins Gespräch mit den ehemaligen Kollegen. Vor allem spürte ich richtig, wie der triste Ausdruck aus meinem Gesicht wich. Und schließlich fand ich mich mitten in einer angeregten Unterhaltung mit Grit, die auch zunehmend auftaute. Obwohl ich zuerst einmal gründlich ins Fettnäpfchen tapste: von Grits Scheidung hatte ich nie etwas geahnt. Im Gegenteil, es war ein Schock für mich zu erfahren, dass Gerd und sie nicht mehr beisammen waren, trotz der beiden Kinder.
Ich spielte mit einem Kugelschreiber, klickste ihn immer wieder an, als wollte ich damit meine Erinnerung vertiefen. Eine üble Geschichte, unheimlich tragisch. Gerds Schwester hatte einen Verkehrsunfall verursacht, bei der ein Mensch getötet worden war. Im Schock hat sie sich das Leben genommen. Und damit wurde wiederum Gerd nicht fertig, er begann zu trinken, wurde unzuverlässig, verlor seinen Job. Als er sie zu schlagen begann, hat Grit ihn verlassen, mitsamt den beiden Kindern, die damals gerade sechs und acht Jahre alt waren. Ein Bub und ein Mädel. Gearbeitet hat Grit übrigens schon bald wieder, als der Jüngste im Kindergarten war, ist sie halbtags in ihre alte Firma zurückgekehrt. Die Kinder hatte sie immer bei ihrer verheirateten Schwester. Deshalb hatte die zerbrochene Beziehung zumindest finanziell keine groben Auswirkungen, weil sie dank der Unterstützung ihrer Schwester nach der Scheidung in ihrer Firma die Arbeitszeit auf 30 Stunden die Woche aufstocken konnte und damit das Auslangen fand.
Nachdenklich machte ich eine Pause. Ich blickte einen Moment lang fast starr aus dem Fenster als würde ich dort den Faden finden, mit dem ich meine Geschichte fortführen würde. Es ist immer schlimm, wenn eine so lange Beziehung zerbricht, vor allem, wenn es sich dabei, wie in Grits Fall, um den ersten Mann handelte. Aber die Kinder, die liebe Verwandtschaft und im Besonderen der Job in der Firma halfen ihr viel, den Alltag zu meistern, wie sie mir versicherte. Es schien schon so, als hätte sie das Ärgste überwunden, als sie an einem Sonntagnachmittag im Freibad Andreas Dorninger wieder über den Weg lief. Andreas war dem Vernehmen nach auch schon eine Weile geschieden, er muss sich so Grit ziemlich über seine Ex ausgelassen haben, aber im Grunde maß Grit diesem zufälligen Treffen keinerlei Bedeutung bei. Sie hatte fast schon wieder darauf vergessen, als ein paar Tage später in der Firma Andreas zu ihr verbunden wurde.
Grit gab zu, dass sie im ersten Moment ziemlich verdattert war. Aber selbst das und die Tatsache, dass er sie abends zum Essen einladen wollte, erschreckten sie damals noch nicht. Eigentlich ist ja auch nichts dabei, wenn man sich aus dem Telefonbuch eine Nummer heraussucht, weil man eine alte Freundschaft vertiefen will. Ich sah Albert an und betonte mit Nachdruck: Aber Andreas ging es um mehr, um sehr viel mehr. Die Tatsache, dass beider Ehen gescheitert waren und er anscheinend in den Jahren nie so völlig über die unerwiderte Liebe zu seiner Grit hinweg gekommen ist, haben in ihm den irrigen Glauben geweckt, dass er nach den vielen Jahren doch noch sein Glück mit ihr finden würde. Und relativ schnell, so hat mir Grit glaubhaft beteuert, muss sich da bei ihm eine fixe Idee daraus entwickelt haben.
Wie äußerte sich das? wollte Albert wissen. Er wirkte zusehends interessierter und nahm mir den Kugelschreiber weg, mit dem ich noch immer spielte. Ständig SMS; Anrufe, auch spät abends, und immer wieder lud er sie ein: zum Essen, ins Kino, zu Ausflügen… und durchaus auch mit den Kindern. Die Absagen, die ihm Grit erteilte, haben ihn nicht entmutigt, im Gegenteil. Er wurde immer lästiger und penetranter, wie mir Grit verzweifelt gestand. Sie habe ihm bei vielen Gelegenheiten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an seinen Zuwendungen nicht interessiert sei, dass sie ihn nicht liebe. Aber Andreas ließ nicht locker, denn er redete sich ein, dass Grit nur deshalb zögerte, weil sie ihre gescheiterte Ehe noch nicht überwunden hätte. Einmal stand er, während sie mit den Kindern bei ihrer Schwester war, vor ihrer Wohnungstür. Ihre Adresse, die sie ihm nie gegeben hat, muss er sich wie die Handynummer aus dem Internet geholt haben. Die Nachbarn haben ihr dann erzählt, welchen Wirbel er gemacht hat, weil sie nicht daheim war. Eine bodenlose Frechheit, findest du nicht auch?
Albert antwortete nicht auf meine Frage. War sie bei der Polizei? Du weiß doch, dass das gar nichts bringt. Die kommen erst dann, wenn es Tote gibt. Auf jeden Fall war Grit mit den Nerven fertig deswegen, sie hat teilweise sogar an Selbstmord gedacht. Nur der Gedanke an die Kinder habe sie davon abgehalten, sich selbst etwas anzutun. So ein Spinner! Weißt, so weit ich mich von der Schulzeit an Andreas erinnern kann, wirkte er immer sehr nett und zuvorkommend, hilfsbereit,… dass man nichts über ihn sagen hätte können. Aber einmal, fällt mir ein, hatte er Streit mit jemandem und ich kam dazu. Als der andere Bursch weg war, hatte Andreas einen Wutanfall und äußerte sich in einer Art und Weise über ihn, dass ich nur den Kopf schütteln konnte und mir dachte, der Bursch hat einen gewaltigen Vogel. Man sieht halt in einen Menschen nicht hinein. Und das, was dieser Mann, Andreas, für Grit empfand, kann man auch nicht als Liebe bezeichnen, das hat mit Liebe nichts zu tun. …und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!
Albert lachte auf. Ich war mit den letzten Sätzen immer erboster geworden und hatte mich etwas zu heftig in diese Affaire, von der ich gar nicht betroffen war, hineingesteigert. Wie ist sie denn diesen Typen losgeworden? Das konnte doch nicht ewig so weitergehen! brachte mich Albert wieder zur Geschichte zurück. Ich legte die Stirn in Falten. Das weiß ich selber nicht so genau. Ich hab ihr an dem Abend meine Handynummer gegeben, für den Notfall, aber sie hat nie angerufen. Jedenfalls ein Jahr später hab ich dann zufällig Erwin in einem Einkaufszentrum getroffen und mit ihm geplaudert. Da hatte Grit dem Vernehmen nach wieder einen Freund, einen Arbeitskollegen. Ich hoffe, ich irre mich jetzt nicht, aber dieser neue Lebensgefährte hat Andreas einmal mit einer Anzeige gedroht oder sogar wirklich eine gemacht. Ab diesem Zeitpunkt hatten die beiden dann ihre Ruhe. Traurig genug, schloss ich, dass man zu solchen Mittel greifen muss, um nicht mehr länger belästigt zu werden.
Na, reg dich nicht auf, es ist vorbei. Albert nahm ich in den Arm. Im Grunde ist Andreas ein armer Teufel, und ich fürchte, dass seine eigene Ehe auch deswegen gescheitert ist, weil er immer ein Traumbild vor Augen hatte, das Traumbild dieser Grit, dem seine Frau natürlich nie entsprechen konnte. Er muss Grit abgöttisch verehrt haben… Lass mich jetzt ausreden, wehrte er meinen Einwand ab, der mir schon auf der Zunge lag. Ich will hier nichts beschönigen, aber hast du dir eigenlicht nie überlegt, wie bitter es für diesen Andreas gewesen sein muss? Einen Menschen ein Leben lang zu lieben ohne Aussicht darauf, jemals die Liebe, die man gibt, zurück zu bekommen? Weil man nicht loslassen kann, weil die Gefühle einfach zu stark sind? Seine Methoden sind verrückt gewesen, das gebe ich zu, aber tief in mir verstehe ich ihn ein wenig. Jeder Mensch wünscht sich, geliebt zu werden von seinem liebsten Menschen, oder?
Liebe allein hält die Welt nicht in Gang. Für sie allein aber lohnt es sich zu leben.
Vivienne
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