von Vivienne – Juli 2004
Der Glaube an sich selbst
Ernst schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
Die Hand tastet zum Lichtschalter.
Die momentane Helligkeit blendete ihn stark.
Er stellte seinen Aktenkoffer achtlos zu Boden.
Schlüpfte aus seinen Schuhen.
Und lief barfuß ins Bad.
Später trocknete er sich ab.
Sein Blick fiel auf die Uhr.
Fast 22:00 Uhr
Ernst schüttelte den Kopf.
Ja, es war wieder spät geworden.
Wie fast jeden Tag.
Geh, Ernstl. Ich muss unbedingt früher weg.
Kannst du das nicht für mich noch erledigen?
Aufgesetztes Lächeln des Kollegen.
Ja.
Er war viel zu gutmütig.
Im Grunde wollte er keinen Verdruss.
Und wenn er mal doch in der Firma polterte, tuschelten alle.
Was er heut wieder hat!
Ist ihm eine Laus über die Leber gelaufen?
Ernst hatte auch öfter das Gefühl, nicht ganz ernst genommen zu werden.
Braver Mitarbeiter.
Im Grunde unauffällig.
Harmlos.
Zu brav, um befördert zu werden.
Zu brav.
Und wohl auch zu anständig.
Nicht, dass er gänzlich ohne Ambitionen wäre.
Aber schleimen lag ihm nicht.
So überhaupt nicht.
Und darauf kam es doch an.
Heutzutage
Später saß er fast emotionslos vor dem Fernsehgerät.
Trank aus der Dose Bier, die er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte.
Zippte durch.
Uninteressiert.
Schließlich schaltet er das Gerät ab und trat auf den Balkon.
Atmete die frische Luft ein.
Das Licht durch die offene Tür zog Insekten an.
Es störte ihn nicht.
Er starrte nur in die Nacht hinaus.
Fixierte einen hellen Stern ganz oben.
Ernst dachte nach.
Sein Leben verlief immer in den gleichen Schablonen.
Ein Arbeitstag glich dem anderen.
Manchmal länger.
Manchmal weniger lang.
Und wenn er am Wochenende daheim war, hatte er Angst.
Angst vor der leeren Wohnung.
Vor dem Alleinsein.
Vor sich selbst.
Und was aus seinem Leben eigentlich geworden war.
Alles war überschaubar.
Absehbar.
Aber mehr als das.
Langweilig.
Nein.
Öde.
Ernst zündete sich eine Zigarette an.
Sein Leben war genau genommen völlig trostlos.
Als er am nächsten Morgen in die Firma kam, standen ein paar Kollegen beisammen.
Sie unterhielten sich lautstark über einen Zeitungsartikel.
Ernst horchte gar nicht hin.
Er schaltete seinen Computer ein.
Und setzte sich zum Gerät.
Sah seinen Terminkalender durch.
Was stand heute an?
Minuten später hatte er sich vom Kaffeeautomaten einen Becher mit dem heißen Getränk geholt.
Er schlürfte es, ohne darüber nachzudenken, was er überhaupt trank.
Als ihm das bewusst geworden war, stellte er den Becher hin.
Ja, er machte überhaupt immer alles, ohne viel nachzudenken.
Viel zu automatisch.
Im Grunde tat er immer dasselbe.
Oder das, was die anderen von ihm erwarteten.
Viel zu gutmütig
Ernst ertappte sich dabei, wie er mit der Faust auf den Tisch schlug.
Nicht sehr fest.
Und es war ihm nicht richtig bewusst, warum er das tat.
Er sah danach erstaunt die Hand an.
Da bemerkte er erst, dass ihn die Kollegen ansahen.
Mit großen Augen.
Und offenem Mund
Im ersten Moment war es ihm unangenehm.
Dann griff er zum Kaffee und nahm einen Schluck.
Tat, als wäre nichts gewesen.
Es war doch auch nichts, oder?
Das Telefon läutete.
Ein Kunde.
Nach dem Mittagessen blätterte Ernst ein paar Angebote durch.
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
Hallo Ernstl!
Der schleimige Tonfall vom Kollegen Müller widerte ihn an.
Natürlich.
Der wollte wieder einen Gefallen von ihm.
Was wohl diesmal?
Mechanisch ordnete Ernst weiter die Seiten und verschloss sich innerlich vor der krakeelenden Stimme.
Du, könntest du Freitag Nachmittag für mich was erledigen?
Muss früh weg, weißt.
Kollege Müller lachte anzüglich.
Hab da einen Hasen an Land gezogen und wir fahren noch vor Mittag weg.
Ich leg dir die Mappe mit den Unterlagen hin, gelt?
Ernst hörte scheinbar ruhig zu.
Es war ihm im Grunde immer egal gewesen, wie lange er irgendwann arbeitete.
Wen kümmerte es?
Er war allein.
Er hatte nie etwas vor.
Während Ernst das durch den Kopf ging, stand er auf.
Sorry, Müller.
Bin seit Ewigkeiten Freitag nicht vor spät abends weg gekommen.
Du musst dir jemand anderen suchen.
Er nickte dem Kollegen zu und ging zum Faxgerät.
Müller starrte ihm nach.
Das ist aber nicht dein Ernst, oder?
Ernst drehte sich kurz um.
Hat es so geklungen?
Müller bekam tellergroße Augen.
Minuten stand er fassungslos da.
Schließlich hob er noch einmal die Stimme.
Aber Ernstl, es wäre ganz wichtig
Müller schaute die Faxe durch.
Ich sagte nein.
Als Ernst später wieder zu seinem Schreibtisch ging, war er über sich selbst erstaunt.
Er wusste nicht, warum er sich so verhalten hatte.
So und nicht anders.
Wie von selbst.
Sandra, die Bürokraft, kam Minuten später wie zufällig an seinen Schreibtisch.
Natürlich hatte Müller seiner Empörung Luft gemacht.
Und sie war neugierig geworden.
Passt alles?
Ihr Lächeln wirkte zunächst ein wenig aufgesetzt.
Ernst sah Sandra von der Seite an.
Ein Angebot bräuchte ich dann von dir.
Wenn du mir das bis halb drei erledigst, wäre das toll.
Geht das in Ordnung?
Sandra lächelte zuerst mechanisch.
Dann nickte sie auf einmal sehr freundlich.
Sicher.
Fax oder Email?
Als sie in ihre Ecke zurückging, schmunzelte sie amüsiert.
Da schau her.
Ernst hat sich emanzipiert
Ihre Finger hämmerten vergnügt über die Tastatur.
Diese Situation gefiel ihr gut.
Außerordentlich gut sogar.
Ernst versuchte wieder sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.
Er verstand seine Veränderung nicht ganz.
Aber es machte ihm zusehends Spaß, nein gesagt zu haben.
Das erste mal in seinem Leben.
Und wer ihn beobachtet konnte feststellen, dass er fast strahlte.
Plötzlich sah er ganz anders aus
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