Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele
14.06.2005, © Vivienne
Du hast es dir verdient!
Senta stand auf.
Hatte sie nicht eben Hermann rufen gehört?
Sie hastete die Stufen nach oben.
Öffnete die Schlafzimmertür.
Ihr Mann saß aufgerichtet in seinem Bett.
In seinen Zügen spiegelte sich Angst.
Und Unsicherheit.
In seinem schmallippigen Mund formten sich Stammellaute.
Was ist denn los?
Sie gab ihrer Stimme einen gütigen Klang.
Hat dich etwas erschreckt?
Oder hast du Hunger?
Hermann blickte sie wortlos an.
In seinen Augen kein Zeichen von Erkennen.
Die Decke hielt er verkrampft in beiden Händen.
Speichel tropfte von seinem linken Mundwinkel.
Ist ja schon gut.
Senta beugte sich zu ihrem Mann hinunter.
Sie wischte sein Kinn mit einem Lappen trocken.
Dann nahm sie seine Hand.
Alles ist in Ordnung.
Senta lächelte ihn an.
Hermanns Blick blieb seelenlos.
Nach ein paar Minuten legte er sich wieder hin.
Schloss die Augen.
Senta deckte ihn sachte zu.
Dunkle Wolken zogen durch.
Es begann zu tröpfeln.
Senta schreckte auf.
Die Wäsche!
Sie lief nach draußen.
Ihr Rücken schmerzte, als sie die Kleidungsstücke von der Leine nahm.
Überhaupt war ihr heute so schwindlig.
Sie rannte mit dem Wäschekorb ins Haus.
Stellte ihn vor der Küche nieder.
Dann musste sie sich setzen.
Ächzend lehnte sie sich zurück.
Sie wurde nicht jünger.
Und das Leben war nicht einfacher geworden seit Hermann
Sie dachte nach.
Die Stimme des Hausarztes klang in ihren Ohren.
Eindringlich.
Sie dürfen sich nicht überanstrengen.
Sie sind nicht mehr die Jüngste.
Warum geben Sie Ihren Mann nicht in ein Heim?
Früher oder später sind Sie überfordert mit ihm.
Wollen Sie Ihre Gesundheit völlig ruinieren?
Senta schüttelte den Kopf.
Nein, das wollte sie nicht.
Aber sie war es Hermann schuldig
Ihre Gedanken kreisten.
Es musste fast zwanzig Jahre her sein.
Ihre älteste Tochter hatte geheiratet.
Gerda.
Was war sie nicht für eine hübsche Braut gewesen!
In ihr langes blondes Haar waren Blumen eingeflochten.
Gerda hatte ausgesehen wie eine Märchenprinzessin.
Was hatte es nicht alles zu tun gegeben deswegen!
Sie hatte kaum Zeit gefunden in ihr grünes Kostüm zu schlüpfen.
Und auf einmal hatte sie Hermann vermisst.
Wo steckte er bloß?
War er schon fertig für die Abfahrt zur Kirche?
Sie hatte ihn im ganzen Haus gesucht.
Er war so still geworden die letzte Zeit.
Sprach kaum noch ein Wort.
Oft saß er einfach da und grinste.
Und wenn sie ihn etwas fragte, hatte er nicht selten keine Ahnung.
Er wusste nicht, was sie wissen wollte.
Ob es an der bevorstehenden Pensionierung lag?
Sie hatte nachgedacht.
Plötzlich war Hermann vor ihr gestanden.
Korrekt im Anzug.
Und mit passender Krawatte.
Er hatte sie einfach angestarrt.
Mit seinem ewigen Grinsen.
Senta verspürte ein merkwürdiges Gefühl in sich.
Irgendetwas störte sie.
Sie wusste aber nicht was.
Bis sie vor der Kirche aus dem Auto stiegen.
Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen.
Hermann trug zwei verschiedene Schuhe.
Einen schwarzen und einen braunen.
Senta ließ die Erinnerung an die Hochzeit wieder los.
Damals war ihr bewusst geworden.
Mit Hermann war etwas nicht in Ordnung!
Mehr als nur Pensionsschock.
Sie war mit ihm von einem Arzt zum anderen gelaufen.
Das Wort Demenz fiel immer wieder.
Aber so alt war Hermann noch nicht.
Noch lange nicht Sechzig.
Sie hatte darauf bestanden, dass ihr Mann in ein Spital ging.
Schließlich eine Diagnose.
Nach Monaten der Ungewissheit.
Alzheimer.
Darin lag die ganze Tragik von Hermann.
Der sie nur mehr selten erkannte.
Oft hilflos durchs Haus irrte.
Und sich nicht einmal mehr mit der Fernbedienung des Fernsehgerätes auskannte.
Er redete immer seltener mit ihr.
Schließlich gar nicht mehr.
Er saß nur mehr in der Ecke.
Starrte Löcher in die Luft.
Und grinste.
Keine Seele mehr in seinem Blick
Er sah aus wie ihr Mann.
Mit dem sie vierzig gemeinsame Jahre geteilt hatte.
Aber er war es nicht mehr.
Nur mehr eine leere Hülle.
Wie ein Kokon.
Senta schüttelte sich ab.
Dann trug sie den Wäschekorb ins Bügelzimmer.
Es war spät.
Sie musste Hermann sein Abendessen kochen.
Eine leichte Suppe mit etwas Gemüse.
Das würde ihm gut tun.
Unvermittelt musste sie lächeln.
Nein, es war nicht leichter geworden.
Seit sie ihren Mann auf diese Weise zu verlieren begonnen hatte.
Aber er sollte es gut haben.
Weich und warm.
Und nur nicht hungern.
Er war immer ein guter Mann gewesen.
Hatte sie nie geschlagen.
Es hatte auch nie eine andere Frau gegeben.
Und sie hatten sich geliebt.
Was hatte sie damals in der kleinen Kirche im Salzkammergut geschworen?
in guten wie in schlechten Tagen
Hermann und sie hatten eine sehr schöne Zeit miteinander verbracht.
Nun waren die Tage nicht mehr so gut.
Das Leben war einfach so.
Aber Hermann sollte es trotzdem schön haben.
So angenehm wie möglich.
Er hatte es sich verdient
Vivienne
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