Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele
16.05.2005, © Vivienne
Keine Zeit für die Liebe
Michael blickte auf die Uhr.
Es war schon wieder spät heute.
Und noch so viel zu tun!
Er stand auf.
Öffnete seinen Hemdkragen.
Trat zum Fenster.
Und blickte hinaus.
In die noch junge Nacht.
Es war dunstig in der Stadt.
Erhellt von Lichtern.
Mehr und mehr.
Sehr reizvoll.
Er erinnerte sich.
Gar nicht so lange her.
Da hatte er sich wie ein junger Kater gefühlt in so einer Nacht!
Wie ein Kater im Frühjahr.
Und das Leben in tiefen Zügen eingesaugt.
Das pulsierende Leben
Gegen 22:30 Uhr schaltete er den PC ab.
Das Wichtigste hatte er erledigt.
Für heute.
Er schloss das Fenster.
Zog das Sakko an.
Zeit heimzufahren.
Er nahm seinen Aktenkoffer.
Sperrte sein Büro ab.
Und ging zum Lift.
Früher war er die fünf Stockwerke einfach hinunter gelaufen.
Und in der Früh auch herauf.
Meistens.
Er hatte immer viel Schwung mitgebracht.
Und viel Elan.
Das Leben ist ein Abenteuer!
Das war einmal sein Lieblingssatz gewesen.
Die Lifttür öffnete sich.
Er ging hinein.
Was hatte sich in seinem Leben so verändert?
Wie konnte ihm das passieren?
In Arbeit versumpfen.
In Trägheit.
Daheim rührte er keinen Finger mehr.
Früher war er nach so einem Tag noch unterwegs gewesen.
Sehr oft sogar.
In der Altstadt.
Oder sonst wo.
Und um drei Uhr früh heimgekommen.
Und am nächsten Arbeitstag war er so kreativ wie nie gewesen.
Er hatte das Leben geküsst.
Und das Leben ihn
Michael sperrte die Firma ab.
Frühjahr.
Ein leiser Windhauch umspielte sein Gesicht.
Sanft wie der Kuss einer Frau
Michael seufzte.
Und spürte das alte Verlangen in ihm aufsteigen.
Dieses Gefühl von Kraft.
Sich alles untertan zu machen.
Alles und alle.
Und die Frau die er liebte
Michael dachte an Carola.
Seine Frau.
Oder besser gesagt.
Seine geschiedene Frau.
Sie lebte nicht einmal mehr in der Stadt.
Das hatte er neulich erst erfahren.
Sie hatte ihn verlassen.
Und war weggezogen.
Und mit ihr seine Lebensfreude
Sein ganzes Glück.
Michael ging zum Parkplatz.
Nur mehr sein Auto stand dort.
Er sperrte auf.
Setzte sich hinein.
Drehte den Zündschlüssel um.
Eigentlich fuhr er heim.
Aber genau genommen hatte er kein Daheim mehr.
Genau genommen schlief er nur mehr dort.
Duschte sich.
Zog sich um.
Er lebte nicht mehr dort.
Er hinterließ nur seien Spuren dort.
Dem Haus fehlte jedes Leben.
Seit ihn Carola verlassen hatte.
Zweimal in der Woche machte eine Putzfrau sauber.
Und vor dem Wochenende füllte er den Kühlschrank auf
Obwohl er selten daheim war.
Er hielt es dort nicht aus.
Sicher.
Die Situation in der Firma war damals prekär gewesen.
Mehr als angespannt.
Über ein halbes Jahr kämpfte man ums Überleben.
Gleichzeitig wollte Carola ein Kind.
Und er musste sie vertrösten.
Nicht nur in der Hinsicht.
Er kam oft nicht Hause.
Auch am Wochenende.
Er versetzte sie beim Abendessen.
Im piekfeinen Lokal.
Mehrmals.
Obwohl er ihr geschworen hatte.
Ich bin da.
Ganz sicher.
Bei unserer Liebe.
Schließlich war sie weg gewesen.
Du hast für niemanden Zeit.
Nur für diese Firma.
Nicht für mich.
Nicht für unsere Liebe.
Und ein gemeinsames Kind.
Bei dir bin ich fehl am Platz
Michael fuhr in die Garage seines Hauses.
Im Wohnzimmer roch es nach Reinigungsmittel.
Fast steril.
In der Küche dasselbe.
Nicht nach frischen Kräutern.
Oder Pasta.
Er und Carola hatten oft gekocht.
Gemeinsam.
Und wieder spürte Michael den Hauch dieses Duftes.
Nicht irgendein Gericht.
Nein.
Das war das Leben.
Das Leben, das er früher so geliebt hatte.
Lebte er überhaupt noch?
Zwischen Akten und Computer?
Aber lag es nicht an ihm selber auch?
Er hatte die Liebe verschenkt.
Aus Mangel an Zeit
Vivienne
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