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01.10.2005, © Vivienne

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wäre ein gutes Beispiel für unseren Literaturwettbewerb. Da die Autorin der Jury unseres Wettbewerbs angehört erscheint der Beitrag aber selbstverständlich außer Konkurrenz.

Verloren

Im Supermarkt.
Der bebrillte Herr im Markenshirt wandte sich angewidert ab.
Ein nachlässig gekleideter, älterer Mann ging an ihm vorbei.
Er verbreitete strengen Geruch.
Beleidigte die Nasen der anderen Supermarktkunden.
Die die Nasen rümpften.
Zielstrebig begab sich der ältere Mann Richtung Spirituosen.
In seiner Hand drehte er einen zerknitterten 20 Euro Schein.
Sein bärtiges Gesicht strahlte.
Fast wie das eines Buben vor dem Weihnachtsbaum.
Die abschätzigen Blicke der anderen Kunden registrierte er kaum.
Fast konnte er sich nicht losreißen.
Mit einer großen Flasche begab er sich schließlich zur Kasse.
Seine Hände zitterten, als er zahlte.
Die Kassiererin blickte abschätzig an ihm vorbei.
1,50 Euro retour!
Die Kasse warf surrend die Rechnung aus.
Umständlich ließ der Mann die Münzen in seine Umhängetasche gleiten.
Dann packte er die Cognacflasche mit beiden Händen.

Der ältere Mann saß auf der Parkbank.
Es war kalt.
Sein Atem gefror in weißen Wölkchen.
Die Cognacflasche hatte er geöffnet.
Vorsichtig goss er etwas vom Inhalt in einen Plastikbecher.
Der Bescher war nicht ganz sauber.
Bräunliche Flecken überall.
Hallo!
Der ältere Mann zuckte zusammen.
Ein anderer Obdachloser stand vor ihm.
Er zeigte beim Grinsen eine Zahnlücke am Oberkiefer.
Hallo Kollege!
Bin ich auch eingeladen?
Er setzte sich grinsend zu dem älteren Mann.
Darf ich ein Schluckerl haben?
Ja?
Nur ein einziges?
Der ältere Mann rückte weg.
Sein Gesicht zeigte Ärger.
Und tiefes Misstrauen.
Dann leerte er  seinen Becher in einem Zug.
Verschloss die Cognacflasche wieder.
Hastig stand er auf.
Der andere Obdachlose bekam große Augen.
Enttäuschung stand in seinem Gesicht.
Bist du aber neidig!
Früher warst du nicht so!
Behalt dir deinen Fusel!
Er begann zu schimpfen.

Der ältere Mann begann zu laufen.
Nein.
Er würde nicht teilen.
Das gehörte alles ihm.
Ihm ganz allein!
Er warf einen Blick zum Himmel!
Es würde heute Nacht frostig werden.
Ordentlich frostig.
Ihm war jetzt schon saukalt.
Angestrengt dachte er nach.
Er hatte keinen Schlafplatz.
Es war so schnell kalt geworden.
Damit hatte er nicht gerechnet.
In der Schlafstelle konnte er nicht.
Da ließ man ihn mit Alkohol nicht hinein.
Und vermutlich auch nicht betrunken.
Er hastete weiter.
Bei den Müllcontainern befanden sich öfter Planen.
Oder Kartons.
Irgendetwas in der Richtung.
Da würde er es schon aushalten.
Die Nacht brach ein.

Der alte Mann kauerte in einer großen Schachtel.
Zugedeckt mit Plastikfolie.
Die befand sich dort in rauen Mengen.
Er schenkte sich aus der Cognacflasche nach.
Er zitterte.
Vor Gier.
Und vor Kälte.
Ein wenig noch!
Dann würde ihm warm werden von dem Alkohol.
Er hätte es schlechter haben können.
Für diese Nacht.
Aber in den nächsten Tagen würde es kalt bleiben.
Er würde sich umsehen müssen.
Hier wollte er keine weitere Nacht bleiben.
Er kuschelte sich an die Schachtelwand.
Bald würde ihm wärmer werden.
Sehr bald…
Er schloss die Augen.
Der Cognac machte ihn müde.
Immer öfter nickte er ein.
Die Flasche entglitt seinen Händen.
Fiel neben seine Beine.
Blubbernd entleerte sich der Inhalt.
Der Obdachlose merkte es nicht.
Sein Mund war leicht geöffnet.
Die Arme um seinen Körper verkrampft.

Ein Anrainer brachte am Morgen seinen Müll.
Der große Karton stand genau zwischen den Containern.
Der Mann versuchte ihn wegzurücken.
Aber der Karton fiel um.
Der Obdachlose rutschte halb heraus.
Umgeben von Plastikfolie.
Sein Mund war noch immer offen.
Der Mann erstarrte.
Dann rief er die Polizei…

Vivienne

 

 

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