Ein rabenschwarzer Tag

Ich ließ die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen. Die Tasche beförderte ich in die Garderobe, halb geworfen. Dann stürmte ich an den Küchentisch, setzte mich und tastete mit zitternden Fingern nach meinen Zigaretten. Meine Finger zitterten noch immer, als ich die ersten Züge inhaliert hatte, die Hände ineinander verkrampft und die Augen halb geschlossen. Was für ein besch…eidener Tag! Ich konnte nichts anderes denken. Nein, hatte ich das verdient? Wieder rief ich mir Günter Nolte in Erinnerung, den einen Kunden aus Deutschland, der mich gleich am Morgen eine Viertelstunde fast pausenlos angeplärrt hatte. Was heißt angeplärrt, er hatte mich die ganze Zeit beschimpft, unflätig und ohne Niveau.

Ein wichtiges Fax war nicht angekommen bei ihm, obwohl der Sendebericht gepasst hatte und ich durfte das ausbaden, in einer selten gekannten Art und Weise. Ich hätte gerne aufgelegt, weil der Mann eine Zumutung war, aber ich fürchtete ehrlich gesagt, der Mann würde es dabei nicht belassen und wieder anrufen um seine Schimpftirade zu wiederholen. Solange, bis er seinen Frust abgebaut hatte. Ich blieb nach außen hin cool, aber meine Kollegin bemerkte nachher wenig sensibel, ich hätte während des Gesprächs einen Sonnenbrand bekommen. Eine wenig gefühlvolle Umschreibung dafür, dass ich gekocht hatte vor Wut, während Nolte in die unterste Kiste griff um mich mit Dreck zu bewerfen.

Immerhin hatte ich noch die Kraft, mich nach dem „Gespräch“ bei Nolte höflich zu bedanken und ihm einen schönen Tag zu wünschen. Da blieb dem guten Mann die Spucke weg, ich hörte noch wie er kurz schnaufte, dann legte er auf. Selbst eine Jumbotasse Kaffee konnte mich danach nicht beruhigen, auch wenn ich wusste, dass Günter Nolte sicher was vom Letzten war, das einem an so einem Tag passieren konnte… Richtig, an so einem Tag. Hatte ich frühmorgens doch in der Straßenbahn bemerkt, dass ich einen Ohrring verloren hatte. Golden, mit einem Aquamarin. Albert hatte mir das Paar zur Hochzeit geschenkt. Kein Wunder, dass ich schon streichfähig gewesen war, als ich in die Arbeit gekommen war.

Aber selbst dabei sollte es nicht bleiben. Als ich kurz nach vier aus der Firma stürmte, weil ich mit den unerträglichen Kopfschmerzen nicht weiterarbeiten konnte, die mich seit dem Telefonat mit Nolte plagten, bespritzte mich ein vorbeifahrender LKW mit Matsch und Dreck, ich war nicht nur pudelnass sondern auch völlig schmutzig. Und als ich schließlich in der Straßenbahn Platz nahm, fror ich schon eine Weile. Es gibt Tage, an denen sollte man besser im Bett liegen bleiben, und der heutige war ein solcher, keine Frage. Ich presste die Lider aufeinander, weil mir ein paar Tränen aufstiegen. Tränen des Selbstmitleides, für die ich mich schämte. Nein, ich wollte nicht weinen, aber ich konnte nicht anders…

Minuten später fing ich mich wieder. Ich dämpfte die Zigarette aus und begann die Waschmaschine zu füllen. Einfach um mich abzulenken, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das Radio lief und umschmeichelte mich mit einem Hit von Duran Duran… Albert würde mir heute fehlen, als Seelentröster. Er war zu einem Freund gefahren und würde erst am Samstag wieder kommen. Natürlich würden wir telefonieren, er konnte jede Minute anrufen und ich konnte mich sicher ein wenig ausweinen, aber trotzdem: Mich an ihn zu lehnen und zu jammern wäre so viel schöner und angenehmer… Ich fragte mich, was er wohl zu dem verschollenen Ohrring sagen würde.

Albert war grundsätzlich ein praktisch veranlagter Mensch und würde sich wahrscheinlich eher amüsieren über meinen Verlust… Vermutlich würde er mich nächste Woche schon mit einem neuen Paar überraschen, davon durfte ich ausgehen und ich war vermutlich die einzige, die sich wegen der Sache Vorwürfe machte und schuldig fühlte… Zufällig erhaschte ich im Spiegel einen Anblick von mir – Gott, war ich schmutzig! Ich hatte völlig vergessen mich umzuziehen! Ich ging ins Schlafzimmer und streifte den Pulli über den Kopf. Ein leises Geräusch ließ mich aufhorchen, als ob etwas herunter gefallen wäre. Ich blickte um mich. Ein Knopf? Als ich die Suche schon aufgeben wollte, sah ich knapp vor dem Bett etwas liegen. Ich trat hin und erschrak fast. Mein Ohrring? War mir nun der zweite auch heruntergefallen?

Ich griff mechanisch zum Ohr und fühlte den Ohrring am Ohrläppchen pendeln. Nein, der war da! Ich bückte mich rasch und griff nach dem Ohrring am Boden: es war tatsächlich mein vermisster Ohrring! Der, von dem ich geglaubt hatte, er wäre mir in der Straßenbahn abhanden gekommen, heute Morgen. Welch ein glücklicher Zufall! Ich strahlte wie ein Diamant als mir klar wurde, welches Glück ich gehabt hatte: der Ohrring war mir zwar wirklich vom Ohr gerutscht, vermutlich hatte sich der Verschluss geöffnet. Aber er hatte sich im Inneren meines Pullis verfangen und war, als ich mich vorhin auszog, zu Boden gefallen… Minuten starrte ich den kleinen Glücksohrring an – so schlecht war dieser Tag dann ja doch nicht gewesen…

© Vivienne

Schreibe einen Kommentar