bohnenzeitung.com

 Home Kolumnen Die bunte Welt von Vivienne

31.10.2005, © Vivienne

Eine andere Perspektive

Es dürfte mittlerweile bekannt sein, dass Ihre Vivienne nun mehr in der zweiten Woche, mit einem Liegegips bestückt, ihr Tagwerk fast nur im Bett verbringt und ich damit sehr eingeschränkt bin, was meine persönliche Fortbewegung betrifft. Ich komme derzeit nicht aus dem Haus, ich komme genauso genommen kaum aus meinen eigenen vier Wänden. Vor dem Computer halte ich es nur aus, weil ich das Bein immer hoch lagern muss und in der Position lässt es sich schwer schreiben. Vor allem nicht lange – entweder das Bein oder mein Rücken fangen dann nämlich sehr schnell zu schmerzen an. Eine Situation, mit er eine bislang sehr unabhängige Frau wie ich mich erst einmal anfreunden muss. Schließlich geht es nicht einfach nur darum, dass ich mich schonen und das betroffen linke Sprunggelenk möglichst nicht bewegen soll.

Ich bin absolut nicht der Typ, der gern liegt und faulenzt. Und sich außerdem noch von vorne bis hinten bedienen lässt. Das Gefühl der Abhängigkeit habe ich erst kürzlich hinlänglich in einem Beitrag (Abhängigkeit) beschrieben. Man lernt in so einer Situation viel über sich selbst und ich musste selber lachen, als mir ein lieber Freund auf meine Ungeduld hin ins Gesicht lachte: „Das habe ich mir genau gedacht, dass du so reagierst!“ Ich hatte gar nicht gewusst, wie ausrechenbar ich anscheinend bin. Aber mir wurde auch erstmalig richtig bewusst: ich, die ich meine eigenen Mutter immer als schwierige Patientin beschrieben hatte, die sich an keine Arztanweisungen hält und nie das tut, was ihr gut tun würde, bin um keinen Deut besser als sie. Schwächen wollen wir uns offensichtlich beide nicht zugestehen. Auf keinen Fall…

Dabei bin ich selber im Grunde ein sehr fürsorglicher Mensch. Nie werde ich vergessen, wie ich vor vielen Jahren die halbe Nacht neben meiner Schwester ausgeharrt hatte, die an einer heftigen Darmgrippe erkrankt war. Aber nicht nur das, ich wartete mit einem leeren Kübel in der Hand, weil sie sich in fast regelmäßigen Abständen übergeben musste. Und wenn das wieder einmal passiert war, leerte ich den Kübel brav aus und wusch ihn, um mich wieder an die Seite meiner Schwester zu begeben. – Um so weniger gefällt mir die Erfahrung, die neue Perspektive, selber umsorgt zu werden und ich habe mich schon oft gefragt, ob das mit einem mangelnden Selbstwertgefühl zusammenhängt, durch das ich mir Fürsorge selber nicht zugestehe…

Apropos andere Perspektive: Kennen Sie, liebe Leser, das Gefühl in einem Wagerl durch das Krankenhaus kutschiert zu werden? Geübte Sanitäter und Pfleger beherrschen diese hohe Kunst wirklich hervorragend und man sollte nicht erwarten, mit welcher Geschwindigkeit man da bisweilen durch die Gänge transportiert wird. Ich bestreite nicht, dass das durchaus witzig sein kann, aber irgendwann wird einem auch bewusst, dass man das Treiben im Spital nicht in der normalen Perspektive beobachten kann sondern aus der Höhe eines Kindes heraus. Man blickt nicht gerade aus, man muss immer nach oben schauen. Und das gefällt mir nicht, nicht auf Dauer. Ganz abgesehen davon, dass man sich nicht selber bewegen kann sondern einmal mehr auf Hilfe angewiesen ist und sich seiner Hilflosigkeit bewusst wird…

Wie schlimm ist diese Situation wirklich? Können Sie, liebe Leser, im Gegensatz zu mir, Hilfe vorbehaltlos annehmen? Oder nervt Sie auch halb unbewusst, das Gefühl, Sie könnten anderen Leuten auf die Nerven gehen? Wenn ich es so recht bedenke, macht man sich eigentlich selber das Leben schwerer als nötig, wenn man zuviel darüber nachdenkt, wem es gerade genehm oder nicht genehm ist, einem bei Bedarf unter die Arme zu greifen. Jeder kann relativ schnell und unerwartet auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Sei es bei einer Panne oder wie bei mir, zum Liegegips verurteilt. Hilfe zu benötigen ist kein Zeichen von Schwäche im Sinne von Unfähigkeit sondern ein temporäres Problem.

Wer ein Problem hat, sich die Notwendigkeit von Unterstützung einzugestehen, leidet vielleicht auch unter einem zu perfekten Selbstbild, das sich selber keine Schwäche zugestehen will. Dabei ist dieser Stolz eine der größten Schwächen, derer der Mensch anfällig sein kann. Sich selber Hilfe zuzugestehen, selbst zu erkennen, dass man es allein nicht immer schaffen kann, setzt nämlich einen großen Lernschritt, eine gewaltige Entwicklung des Charakters voraus…

Vivienne

 

 

 

 Redakteure stellen sich vor: Vivienne       
 Alle Beiträge von Vivienne

Schreibe einen Kommentar