Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele
10.12.2005, © Vivienne
Der alte Mann
Sarah saß verbittert im Wartebereich des Spitals.
Die Handtasche an sich gepresst.
Fast verkrampft.
Sie fixierte die Uhr links oben von ihr.
Seit zwei Stunden saß sie hier.
Zwei lange Stunden.
Heute Morgen hatte ihr älterer Bruder angerufen.
Der Vater hatte einen Herzanfall erlitten.
Es ging dem alten Herrn nicht gut.
Ihm.
Der Raubbau an seiner Gesundheit betrieben hatte.
Sein ganzes Leben lang.
Alkohol.
Zigaretten.
Durchgefeierte Nächte.
Sarah erinnerte sich an ihre Kindheit.
An eine Zeit, in der kaum Geld da gewesen war.
Rechnungen über Rechnungen.
Mahnungen.
Inkassobüro.
Die Schande in der Schule.
Wenn der Lehrer sie wieder bloß gestellt hatte.
Er war immer bestens informiert.
Und er genoss seine Häme.
Ein reiner Sadist
Sarah hatte ihren Vater gehasst.
Dafür, dass er keiner geregelten Arbeit nachgegangen war.
Dass er nicht da für sie war.
Wenn sie ihn brauchte.
In der Pubertät.
Bei ihrer ersten, unglücklichen Liebe.
Als sie einen Job suchte.
Ihre erste Wohnung einrichtete.
Sie hatte ihren Vater gehasst.
Und der Hass war kaum weniger geworden.
In all den Jahren.
In denen sie ihn in sich versteckt hatte.
Obwohl sie ihr Leben im Griff hatte.
Äußerlich.
Sie und ihr Mann hatten ein Haus.
Ein süßes Kind.
Zehn Jahre alt.
Dem sie sich in der Wärme und Zuwendung widmete.
Wie es ihr Vater nie getan hatte.
Bei ihr und den Geschwistern.
Die Bitterkeit hatte sich in ihr Herz gefräst.
Unauslöschlich.
Auch ihrem Mann fiel es ab und an auf.
Du bist heute wieder so kalt.
Was ist los?
Sie antwortet nie darauf.
Hartmut hätte es nicht verstanden.
Vorbei ist vorbei!
Das war seine Devise.
Hatte er nicht Recht?
Sarah zog die Stirne in Falten.
Vielleicht.
Aber in ihr drin.
Da wollte sie es nicht begreifen.
Etwas wehrte sich
Sie zuckte zusammen.
Ihr Bruder stand vor ihr.
Hatte die Hand leicht auf ihre Schulter gelegt.
Siegfried blickte ernst.
Fahr heim, Sarah.
Im Moment kannst du nichts tun.
Sarah stand auf.
Wie geht es ihm?
Siegfried atmete schwer.
Nicht gut.
Er wird noch operiert.
Ich gebe dir Bescheid.
Er wich ihrem Blick aus.
Und der unausgesprochenen Frage in ihrem Gesicht.
Ich ruf dich an, wenn ich was weiß
Langsam ging Sarah durch die Eingangstür.
Fast betäubt.
Ihr Vater konnte sterben.
Siegfried hatte es nicht direkt gesagt.
Aber sie wusste es.
Und?
Etwas in ihr begehrte auf.
Laut und heftig.
Und wenn schon?
Er hatte immer exzessiv gelebt.
Nur auf sich bedacht.
Nur für den Augenblick.
Ein Wunder, dass er überhaupt so alt geworden war.
Sarah blieb stehen.
Mitten auf den Stufen zur Parkgarage.
Aber war er nicht trotzdem ihr Vater?
Die Stimme in ihr war leise.
Aber nachhaltig.
Er war ihr Vater.
Den sie trotz allem auch immer geliebt hatte.
Obwohl er sie geschlagen hatte.
Im Suff.
Dem es gleichgültig gewesen war.
Wenn sie seinen Zuspruch nötig gehabt hatte.
Der aber auch einen Entzug gemacht hatte.
Vor zehn Jahren.
Wegen der schlechten Leber.
Seither war er trocken.
Und das Rauchen hatte er auch eingeschränkt.
Er hatte geweint wie ein Kind.
Als sie ihn im Heim besucht hatte.
Kein Mensch konnte ahnen, was in ihm vorgegangen war.
Damals.
Wie ein Häufchen Elend war er im Sessel gesessen.
Graues Haar.
Die Nikotin verfärbten Finger.
Er zitterte.
In sich zusammen gesunken.
Was war er nicht einmal ein Bild von einem Mann gewesen!
Groß und stark.
Nun wirkte er klein und schwach.
Unglaublich verletzbar.
Erst in der Erinnerung wurde ihr das bewusst.
Sie begriff nicht warum
Und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen
Siegfried rief am nächsten Morgen an.
Er ist über dem Berg.
Aber es wird dauern, bis er wieder auf die Beine kommt.
Kommst du ihn besuchen?
Heute?
Sarah nickte.
Sie stammelte fast nur am Telefon.
Gott sei Dank.
Er hatte es geschafft.
Nein.
Ihr Vater war nie ein guter Mensch gewesen.
Kein liebender Familienmensch.
Aber er war ihr Vater.
Den sie liebte.
Den sie brauchte.
Auch wenn er
Vorbei.
Hartmut hatte so Recht.
Er war ihr Vater.
Und ihr Hass würde sie nur noch kälter machen.
Ein Hass, der sie selbst immer mehr getroffen hatte.
Als ihn.
Der jetzt krank und schwach war.
Und sie brauchte
Warum da in der Vergangenheit wühlen?
Vivienne
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