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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

21.07.2005, © Vivienne

Ich kann’s nicht sagen…

Michelle wälzte sich schlaflos im Bett.
Es war halb zwei Uhr früh.
Montagmorgen.
Und in ein paar Stunden musste sie aufstehen
Arbeiten im Geschäft ihres Onkels.
Sie wollte schlafen.
Aber sie konnte nicht.
Michelle war todmüde.
Aber sie konnte einfach nicht einschlafen.
Ihre Augen brannten.
Von den verhaltenen Tränen.
Von der Müdigkeit.
Michelle stand auf.
Zog den langen Pulli an.
Ging runter in die rustikale Küche.
Wie hatte Tante Ricki gesagt?
Heiße Milch mit Honig.
Sie wärmte die Milch.
Suchte hektisch nach dem Honigglas.
Mischte ihn dann mit dem Löffel in die Milch.
Trank schluckweise.
Ekelhaft.
So süß.
Sie hatte wohl zu viel Honig dazugemischt…

Minuten saß sie auf den Stufen.
Die Knie hochgezogen.
Immer wieder tauchte Daniels Bild vor ihrem Gesicht an.
Seine süßen braunen Augen.
Sein dunkler Lockenschopf.
Sie saßen beide in der biederen Landdisco.
Er hatte seinen Arm um sie gelegt.
Und immer wieder sagte er:
Michelle.
Kommst du nächste Woche mit?
Bitte!
Ich freu mich so!
Michelle lehnte den Kopf an ihre Knie.
Eine Träne kullerte über ihr Gesicht.
Daniel war verliebt.
Unübersehbar.
Verliebt in sie.
Aber würde er sie noch lieben?
Wenn er alles ahnte?
Michelle schluchzte auf.
Es klang fast wie ein Aufschrei.
Die Katze umschnurrte ihre Beine.
Als wollte sie sie trösten.

Tante Ricky sah Michelle entgeistert an.
Wie siehst denn du aus?
Was ist denn los?
Michelle wandte sich ab.
Ich konnte nicht schlafen.
Tante Ricky stellte ihr die Tasse mit dem Kräutertee vor die Nase.
Trink einmal.
Das hilft dir sicher.
Macht dich lebendig.
Und jetzt sag mir, warum du nicht schlafen konntest.
Fünf Minuten später weinte Michelle hemmungslos.
Ihr ganzer Schmerz fraß sich durch die Seele.
Tante Ricky stand daneben.
Sie sagte kein Wort.
Schließlich nahm sie Michelles Hand.
Und wenn du es ihm einfach sagst?
Jeder macht einen Fehler…
Michelle schüttelte den Kopf.
Das war unmöglich.
Genau genommen  machte es keinen Unterschied.
Sie würde ihn verlieren…
Bevor sie ihn je richtig haben würde können…
Ihre Vergangenheit holte sie ein…

Michelle stand im Geschäft ihres Onkels.
Es war wenig los heute.
Montagvormittag.
Frau Moser holte ich einen Liter Haltbarmilch.
Michelle tippte den Betrag ein.
Die Kasse sprang auf.
95 Cent retour, gnä’ Frau!
Frau Moser lächelte.
Dann war sie wieder allein im Geschäft.
Sie begann über die Zeit in der Großstadt zu grübeln.
Ihre Eltern waren geschieden.
Ihre Mutter hatte keine Zeit für sie gehabt.
Sie musste ganztags arbeiten.
Und Michelle hatte sich in die Welt ihrer Freunde geflüchtet.
Keine gute Welt.
Viel Alkohol.
Für Michelle war er vertraut geworden.
Wie die Zigaretten.
Ihrer Mutter war nichts aufgefallen.
Sie hatte andere Sorgen.
Bis man sie einmal mitten in der Nacht aus dem Bett holte…
Michelle war in einer Disco umgefallen.
Halbtot.
Voll mit Alkohol.
Und Drogencocktails.

Michelle starrte durch die Tür.
Der Entzug war schlimm gewesen.
Sie hatte viel geweint.
Und fast zehn Kilo abgenommen dabei.
Obwohl sie vorher nicht einmal pummelig gewesen war.
Dünn hatte sie ausgesehen.
Fast durchscheinend.
Und ihre Mutter hatte hart durchgegriffen.
Weg von der Schule!
Die Leistungen hatten ohnedies nicht mehr gestimmt.
Weg von den Freunden!
Die ohnedies nur ganze Nächte durchsoffen.
Denen Drogen vertraut waren.
Ein neues Leben beginnen.
In angenehmer Umgebung.
Mit Menschen.
Nicht mit Kids.
Die sich und der Welt etwas vorgaukeln wollten.
Mit Drogen und Alkohol.
Sie war jetzt neunzehn.
Über ein Jahr hier bei ihrem Onkel und seiner Frau.
Aber wer wollte sie hier schon?
Mit ihrer Vergangenheit?
Michelle schreckte hoch.
Herr Meiringer keuchte durch die Tür.
Er hatte Asthma.

Das Essen schmeckte Michelle nicht.
Fast angewidert schob sie es weg.
Sie fixierte einen Punkt an der Wand.
Der sich zu drehen begann.
Immer schneller.
Michelle schloss die Augen.
Sie riss sich los.
Ihre Tante werkte in der Küche.
Das Geschirr schepperte.
Es läutete an der Tür.
Machst du auf, Michelle?
Die Stimme der Tante klang hektisch.
Bitte.
Michelle stand auf.
Langsam ging sie zur Haustür.
Sie erschrak vor Dannies lachendem Gesicht.
Im ersten Impuls wollte sie die Tür wieder zuwerfen.
Aber er trat ein.
Nahm ihre Hand.
Michelle wurde schwindlig.
Sie spürte, sie würde gleich zu weinen beginnen.
Alles vorbei!

Michelle starrte Dannie an.
Du wusstest es?
Daniel nickte.
Wir alle hier wussten es.
Wir alles haben es erfahren.
Was du durchgemacht hast.
Dass es nicht einfach für dich war.
Und wir haben nichts gesagt.
Damit du es leichter schaffst.
Am Land spricht sich so was schnell herum.
Weißt du…
Er lächelte Michelle an.
Streichelte sie zärtlich an der Wange.
Am Anfang hast du mir nur leid getan.
Denn du sahst immer so traurig aus.
So allein.
Aber verliebt habe ich mich in dein Lachen…
Du bist so hübsch.
Und jeder siehst, was du dich reinhaust.
Im Geschäft deines Onkels.
Was immer war, es ist vorbei.
Darum geht es nicht mehr…

Vivienne

 

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