Nicole saß gekrümmt in ihrem großen Sessel.
Vornüber gebeugt.
Fast wie ein Fragezeichen.
Das Gesicht verschwollen und rot.
Tränen flossen über ihr Gesicht.
Heftiges Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Die kleinen Hände zu Fäusten geballt.
Auf dem Boden lagen einige Bücher.
Unachtsam verstreut.
Und die große Vase lag zersplittert daneben.
Die Blumen wirr zerstreut.
Rote Rosen und Schleierkraut.
Eine Wasserlache auf dem Boden…
Nicole presste die Augen zusammen.
Gerhard war erst zehn Minuten weg.
Gerhard…
Ein verschwommenes Bild tauchte vor ihren Augen auf.
Gerhard, wie er rückwärts zur Tür ging.
Sein Gesicht mit den Armen vor den Büchern schützte.
Die sie nach ihm geschleudert hatte.
Während sie geschrieen hatte.
Wie von Sinnen.
Ihr Hals schmerzte noch immer.
Gerhards Stimme hatte leise geklungen.
Es tut mir Leid.
Es tut mir wirklich Leid.
Ich wollte dir nicht wehtun…
Ich habe es doch nur gut gemeint…
Bitte hör doch auf.
Reden wir doch miteinander!
Wir könnten es noch immer so schön haben…
Nicole hatte sich Tee aufgebrüht.
Der Duft wirkte belebend.
Ihr Gesicht war noch immer von dem Weinkrampf entstellt.
Aber sie hatte die Bücher weggeräumt.
Wieder ins Regal gestellt.
Und die Scherben und die Rosen entsorgt.
Nein.
Sie hatte den Strauß nicht in einer Vase arrangiert.
Sie wollte die Blumen nicht sehen.
Sie erinnerten sie nur an Gerhard.
Gerhard, diesen Schuft.
Diesen Dreckskerl…
Eine einzelne Träne floss über ihr Gesicht.
Nicole wischte sie mechanisch weg.
Sie hatte ihm völlig vertraut.
Wie einem Familienmitglied fast.
Nicht dass sie ihn je geliebt hatte…
Aber er war treu gewesen.
Fast ergeben.
Und immer da, wenn mal Not am Mann war.
Ich muss zum Flughafen!
Hast du Zeit mich hinzubringen?
Gerhard hatte.
Und immer war da ein Verdacht in ihr gewesen.
Gerhard könnte mehr für sie empfinden.
Mehr als Freundschaft.
Aber sie hatte den Gedanken immer verworfen.
Es spielte keine Rolle.
Sie liebte Fred.
Und mit Fred war sie verheiratet…
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte Fred sie letzten Winter verlassen.
Wenige Wochen vor Weihnachten.
Es gab eine andere Frau.
Einige Monate schon.
Und sie, Nicole, hatte nichts davon bemerkt.
Nicht den Schatten eines Verdachtes hatte sie gehegt.
Und jetzt war sie nach Freds Eröffnung völlig fertig gewesen.
Immer wieder erinnerte sie sich an den Schock.
Als ihre Hände und ihr Körper zu zittern begonnen hatten.
Ein Wochenende war sie in einer Klinik gewesen.
Auf der Psychiatrie.
Fred war es egal gewesen.
Er rief nicht einmal an.
Sie hatte nie geahnt, wie kalt er sein hatte können.
Wie zu seinen Geschäftspartnern.
Die ihn fast fürchteten…
Wochen und eine Therapie später hatte sie das Ärgste verwunden gehabt.
Und das hatte sie Gerhard zu verdanken gehabt.
Gerhard.
Er hatte eine Therapeutin organisiert.
Und hatte jeden Tag angerufen.
Wie geht es dir?
Sag, was treibt du gerade?
Und er hatte sie in sein Haus geholt.
Natürlich brauchst du eine Wohnung.
Irgendwann.
Aber nicht jetzt.
Du solltest jetzt nicht allein sein.
Hier bei mir hast du Abwechslung, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst.
Ich bin da.
Meine Kinder.
Da kommst du nicht auf trübe Gedanken…
Gerhard war geschieden.
Seine Frau hatte sich mit einem jungen Lover abgesetzt.
Und ihn mit den Kindern alleingelassen.
Gerhard verstand genau, was sie durchmachte.
Ihm war es doch genauso gegangen.
Schon vor ein paar Jahren.
Und Gerhard war seither allein…
Nicole schloss die Augen.
Es fröstelte sie.
Obwohl der Tee heiß war.
Zugegeben.
Es war eine nette Zeit gewesen.
Eingebettet in Gerhards Familie.
Ehrlich.
Wie hätte sie Weihnachten sonst durch gestanden?
Sie wollte damals gar nicht daran denken.
Gerhards Aufmerksamkeiten taten ihr gut.
Einmal in der Woche ging man auswärts essen.
Mehrmals in der Woche Kino oder Theater.
Oder auch ein Musical in Wien.
Gerhard hatte Geschmack und Kultur.
Im Frühjahr war ihr die Beschaulichkeit trotzdem zu viel geworden.
In der Arbeit hielt man sie schon lange für die Freundin von Gerhard.
Aber sie liebte Gerhard nicht.
Sie war ihm dankbar.
Und sie hegte warme Gefühle für ihn.
Aber eine Beziehung?
Nein.
Gerhard war nicht der Mann, der das Feuer in ihr wieder anfachte.
Betreten hatte er Nicole angesehen, als sie es ihm sagte.
Ich werde mir eine Wohnung suchen.
Ich möchte wieder selbständig sein.
Du hast so viel für mich getan…
In Gerhards Gesicht hatte sich keine Regung gezeigt.
Nicht die geringste.
Aber er hatte die nächsten Wochen etwas kühl gewirkt.
Gerhard hatte sich also doch Hoffnungen gemacht.
Fatale Situation.
Aber war es wirklich ihre Schuld gewesen?
Gedanken, die immer wieder kamen.
Während sie die Wohnung einrichtete.
Nein.
Sie hatte ihm nie etwas versprochen…
Es tat ihr natürlich Leid.
Sie wollte Gerhard nicht wehtun.
Aber Gefühle konnte man nicht zwingen.
Und wenn sie ehrlich war…
Es gab da jemanden, zu dem sie schon zarte Bande knüpfte.
Matthias.
Ihr neuer Wohnungsnachbar…
Sie wusste nicht mehr genau, wann die Anrufe am Handy begonnen hatten.
Lautes Stöhnen.
Öbszöne Bemerkungen.
Grelles Lachen…
Und immer mit unterdrückter Rufnummer.
Sie konnte nicht mehr durchschlafen.
Immer hatte sie Angst, verfolgt zu werden.
Abends im Bus.
Oder nur bei einem Spaziergang im Park.
Selbst die Fenster wollte sie nicht mehr öffnen.
Der Kerl könnte schließlich wissen wo sie wohnte.
Schließlich rief sie Gerhard an.
Der Perverse hatte sie nach Mitternacht wieder belästigt.
Und sie war fertig mit den Nerven gewesen…
Gerhard war ganz die Fürsorge.
Bleib in der Wohnung!
Hab keine Angst!
Ich hole dich sofort!
Und er hielt Wort.
In ihrem angestammten Zimmer bei ihm daheim bracht er sie unter.
Und dort schlief sie so ruhig, wie die letzten Wochen nicht…
Nicole hatte lange geschlafen.
Gerhard brachte ihr das Frühstück ans Bett.
Lass es dir gut schmecken… ja?
Später saß sie wieder im Wohnzimmer.
Studierte Zeitschriften.
Und fühlte sich irgendwie geborgen…
Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer.
Ein bunter Kassettenrecorder stand neben dem Telefon.
Seit wann das?
Vielleicht hatte ihn eines der Kinder dorthin gestellt…
Sie stand auf.
Schlenderte hin.
Als Marlene zu ihr lief.
Marlene war Gerhards jüngste Tochter.
Da darfst du nicht hin!
Nicole stutzte.
Aber warum?
Ich möchte ja gar nicht telefonieren!
Ich sehe mir das nur an.
Eine Kassette war eingelegt.
Und ein seltsames Gefühl beschlich sie.
Sie drückte auf den Play-Knopf.
Und Marlene flüsterte.
Das ist von Papa.
Das darfst du nicht wissen.
Damit du wieder zurückkommst.
Und unsere Mama wirst…
Das Stöhnen aus dem Lautsprecher trieb ihr gleich darauf die Tränen in die Augen.
Das war der Perverse, der sie seit Wochen belästigt hatte.
Sie fast paranoid gemacht hatte.
Das war Gerhard.
Und er hatte keine Skrupel gehabt…
Nicole barg den Kopf in ihren Händen.
Der Schmerz in ihrem Inneren beherrschte ihr Denken.
Sie hatte die Wohnung verlassen.
Sie wusste nicht mehr wann und wie.
Oder wie sie wieder in ihre Wohnung gekommen war.
Nur dass sie weg wollte.
Sie wäre sonst erstickt.
Gerhard stand zwei Stunden später vor ihrer Tür.
Mit den roten Rosen.
Zerfloss fast vor Worten…
Der Anfall danach war kein Ruhmesblatt für sie gewesen.
Sie hatte begonnen Gerhard mit Büchern zu bewerfen.
Und hatte dabei wie am Spieß geschrieen…
Aber die Aggression hatte ihr auch gut getan.
Wenn da nicht auch die tiefe Wunde in ihrem Inneren getobt hätte.
Konnte man noch jemandem trauen?
Irgendjemandem?
Sie hätte für Gerhard die Hand ins Feuer gelegt.
Aber es hatte ihn nicht gehindert, sie halb verrückt zu machen.
Um sie zu bekommen.
Sie, die Frau, die er liebte…
Vivienne