Du machst mich krank!

Ariane saß auf dem Balkon.
Ein wunderschöner Frühsommertag ging zu Ende.
Ariane hatte ein Buch auf dem Schoß liegen.
Die Arme verschränkt.
Sie lächelte leise.
Wer hätte das gedacht?
Sie fühlte sich nun schon recht wohl hier.
In der kleinen Wohnung am Stadtrand.
Mit dem schönen Blick auf die Randgebiete.
Sehr hübsch.
Alles grün.
Unten im Hof spielende Kinder.
Dazu Blumenkästen.
Mit Geranien.
Fuchsien.
Verbenen.
Bunt und schön.
Ariane schloss die Augen.
Es war herrlich hier.
Nur die Müdigkeit.
Aber das lag wohl an den Tabletten…

Ariane stand auf.
Zupfte ihr Haar zurecht.
Ein Tasse Tee würde ihr jetzt sicher gut tun.
Sie ging in die kleine Küche.
Setzte Wasser auf.
Und starrte durch das Fenster.
Im Haus war die Küche sehr viel größer gewesen.
Und hier gab es noch manches zu tun.
Einen Vorhang nähen, zum Beispiel.
Den Stoff hatte sie schon ausgesucht.
Dazu ein paar Keramiktöpfe.
Mit Küchenkräutern.
Schnittlauch.
Petersilie.
Oreganum…
Sie hatte das auch im Haus gehabt.
Ein richtiges Kistchen.
Mit frischen Kräutern.
Nur dass es diesmal Spaß machen würde.
All die grünen Kräuter zu ziehen.
Den würzigen Duft einzuatmen.
Wenn sie diese schnitt.
Weil Ronald nicht hinter ihr stehen würde…

Der Wasserkessel begann zu pfeifen.
Ariane schreckte auf.
Sie goss die Teebeutel auf.
Und schüttete das restliche Wasser weg.
Nein.
Ronald würde nicht da sein.
Nie mehr…
Ariane verharrte einen Moment.
Ihr Blick ging ins Leere.
Liebe ist etwas Eigenartiges.
Der Gedanke ging ihr durch den Kopf.
Man wusste nie, wie sich das entwickeln würde.
Man wusste nie, ob sie bleibt…
Was war sie nicht verliebt gewesen in Ronald!
Frisch von der Universität.
Er sah so gut aus!
Und er begehrte sie.
Sie!
Und keine andere!
Unkenrufe hatte sie geflissentlich überhört.
Ronald ist ein Pedant.
Dem kann man nichts recht machen.
Überleg dir das gut!

Sie hatte es sich nicht überlegt.
Man heiratete, als das erste Kind unterwegs war.
Und Ariane war zu ihm gezogen…
Nach ein paar Wochen waren ihr die Träumereien vergangen.
Ronald war kein Pedant.
Er war ein Tyrann.
Ein Staubkörnchen konnte ihn zur Raserei bringen.
Mittagessen immer Punkt 12:00 Uhr.
Er sprach Tage nicht mit ihr.
Wenn es einmal eine Minute später wurde.
Am schlimmsten waren die Belehrungen.
Er behandelte sie oft wie ein kleines Kind.
Demütigte sie.
Vor den Kindern.
Vor Verwandten.
Oder den Nachbarn.
Diskutieren mit ihm?
Unmöglich!
Ronald ignorierte sie einfach völlig.
Wenn sie sich nicht brav und ergeben verhielt.
Und sie begann sich zu verändern.
Sie sagte kaum mehr ein Wort.
Wurde blass und immer stiller.
Und aß fast nichts mehr…

Immer öfter weinte sie heimlich.
Angstzustände machten ihr zu schaffen.
Sie traute sich kaum mehr einzukaufen.
Allein.
Obwohl das Geschäft in fünf Minuten zu erreichen war.
Zu Fuß.
Irgendwann war sie auf der Straße zusammengebrochen.
Mit einem Schreikrampf.
Sie wäre der größte Trampel aller Zeiten!
Ronald hatte ihr das gerade erklärt gehabt.
Sie hatte den Kuchen anbrennen lassen.
Und lauter Rauch war in der Küche gewesen…
In der Nervenklinik war sie zu sich gekommen.
Man war dort sehr nett zu ihr.
Und endlich hörte ihr jemand zu.
Sie konnte sich ausreden.
Ronald ließ sich nicht blicken.
Richtig.
Sie hatte ja Schande über seinen Namen gebracht.
Welch ein Makel!
Die eigene Frau im Irrenhaus!
Und alle wussten es in dem Viertel!
Ariane hingegen bekam Medikamente.
Gegen ihre schweren Depressionen.
Machte eine Therapie.

Ariane seufzte.
Seit sechs Wochen war sie nun geschieden.
In der Selbsthilfegruppe hatte man ihr wegen der Wohnung geholfen.
Und sie gelehrt sich selbst zu lieben.
Nicht sie war so sehr krank.
Als viel mehr ihr Ronald.
Mit seiner Ordnungsphobie.
Mit seinem Minderwertigkeitskomplex.
Dabei hatte sie sich immer so schuldig gefühlt.
Weil sie dem nicht entsprach.
Was Ronald von ihr forderte.
Aber hätte das überhaupt eine Frau gekonnt?
Der Therapeut hatte ihr diese Frage gestellt.
Und da war ihr bewusst geworden:
Der Fehler lag nicht bei ihr…
Ariane trank den Tee schluckweise.
Ihre Haare waren grau geworden.
Genau wie ihre Seele.
Ronald hatte sie krank gemacht.
Aber er hatte sie nicht brechen können…

Vivienne

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