Eine Gewissensfrage

Karin und Max aßen schweigend am Tisch.
Max rührte lustlos im Reis.
Karin kaute langsam.
Sie schien nicht viel Hunger zu haben.
Schließlich wischte sie sich mit der Serviette über den Mund.
Dann stand sie hektisch auf.
Schatz, ich muss weg.
Ich muss mir die Nähmaschine holen.
Hanna hat sie sich letzte Woche ausgeliehen.
Und dann schau ich noch in den Supermarkt.
Das eine oder andere brauchen wir noch für die nächsten Tage…
Max nickte.
Tu das.
Er lächelte seine Frau an.
Es wirkte nicht ganz echt.
Tu das.
Vielleicht ist das Schraubenset noch im Angebot.
Du könntest es mitnehmen…
Karin stimmte zu.
Ich kümmere mich darum.
Hab ein Auge auf die Kinder, ja?
Minuten später hörte Max den Motor aufheulen.
Karin machte sich auf den Weg…

Max räumte den Tisch ab.
Räumte das Geschirr in den Spüler.
Wechselte das Tischtuch.
Dann kippte er das Fenster.
Er fror.
Ein Hauch von Frühling lag in der Luft.
Aber er konnte sich nicht daran freuen.
Immer wieder schweiften seine Gedanken ab.
Hans und Petra waren gestern da gewesen.
Sie hatten den halben Abend bei ihnen verbracht.
Max seufzte.
Die Stimme von Hans klang in seinem Ohr.
Hans, der Bruder seiner Frau Karin.
Ich bin unfruchtbar.
Zeugungsunfähig.
Daran wird sich nichts ändern.
Aber wir wollen Kinder.
Unbedingt.
Doch nicht mehr durch diesen Wunderdoktor.
Petra hat er nur mit Hormonen vollgepumpt.
So ein Scharlatan.
Max hatte den Blick von Hans gespürt.
Obwohl er ihn nicht angesehen hatte.
Ihn nicht ansehen hatte wollen.
Hans hatte verzweifelt geklungen.
Wir können nicht mehr so weitermachen.
Der Zustand macht uns beide kaputt…

Max setzte Tee auf.
Ein wenig Kuchen war noch da vom Vortag.
Die Mädchen tobten im Kinderzimmer.
Max lächelte.
Er setze dem Streit schnell ein Ende.
Sarah und Linda.
Seine Mädels.
Acht und zehn Jahre alt.
Sein ganzer Stolz.
Momentan hatte er wenig Grund stolz zu sein.
Er, Max, war arbeitslos.
Zwar erst zwei Monate.
Aber er und Karin spürten es empfindlich.
Er verschickte jede Woche Bewerbungen.
Und im Grunde war er sich sicher.
Es würde sich bald wieder etwas ergeben.
Er war schließlich nicht faul.
Ganz im Gegenteil…
Max schenkte sich eine Tasse Tee ein.
Rührte den Kandiszucker bedächtig um.
Und hörte nicht mehr auf…

Nächsten Monat war das Pickerl fällig.
Das Auto war nicht neu.
Über zehn Jahre alt.
Vereinzelt Rost.
Der Motor klang öfter eigenartig.
Und die Bremsen…
Zahlte sich eine Reparatur überhaupt noch aus?
Immer öfter musste er daran denken.
Ein neuer Wagen war unerschwinglich.
Nicht zu diesem Zeitpunkt.
Ein Teufelskreis.
Wie sollte er bei anderen Firmen vorstellen gehen?
Ohne eigenes Auto?
Wo immer sich ein neuer Job ergeben würde.
Er brauchte einen eigenen Wagen.
Um ihn zu erreichen.
Und selbst wenn das alte Auto noch repariert werden konnte.
Wie sollte er Geld für eine größere Reparatur aufbringen?
Die Raten für das Haus.
Die Betriebskosten.
Der Winter war kalt gewesen.
Und das Heizmaterial kostete viel Geld…
Max legte den Teelöffel beiseite.
Unvermittelt stand er auf.
Die Stimme von Hans klang wieder in seinem Ohr.

Denkt doch einfach darüber nach.
Und das Kind würde es gut haben bei uns.
Das wisst ihr ja.
Du schläfst einfach mit Petra.
Zwei, drei Mal.
Bis es klappt.
Man kann den passenden Zeitpunkt heute schon leicht feststellen.
Und uns allen wäre geholfen.
Wir hätten endlich unser Kind.
Und ihr wärt alle Sorgen los.
Wir würden es uns etwas kosten lassen.
Ein neues Auto.
Ein finanzielles Polster für die nächsten Wochen.
Bis du wieder einen Job hast.
Bitte.
Das ist doch ein faires Angebot!

Max schloss das Fenster wieder.
Er hatte einer Puppe das Bein wieder eingerenkt.
Und die jüngste war ein paar Runden durch das Wohnzimmer geritten.
Auf seinem Rücken.
Hatte Hans nicht Recht?
Was war schon dabei, wenn er mit Petra schlief?
Es ging in dem Fall nicht um Lust.
Nicht um Erotik.
Sondern um den Zweck ein Kind zu zeugen.
Nicht mehr und nicht weniger.
Selbst Karin hatte ihn heute Morgen darauf angesprochen.
Ihre Worte hatten bestimmt geklungen.
Es liegt nur an dir.
Wirklich.
Ich bin einverstanden.
Es hat nichts zu bedeuten.
Es ist ja nur wegen eines Kindes.
Nicht mehr.
Max presste die Lippen aufeinander.
Sein Atem ging schwer.
War er etwa ein Zuchthengst?
Musste er schon auf diese Weise seine Familie ernähren?

Dieses Kind würde immer Geschwisterchen seiner Mädels sein.
Und wenn er ehrlich war.
Petra gefiel ihm.
Sie sah gut aus.
Was, wenn er sich verliebte?
Was, wenn sie ihm plötzlich mehr bedeutete?
Er konnte seinen Körper kontrollieren.
Aber nicht seine Gefühle.
Und mal abgesehen davon.
Was Hans von ihm erwartete war Ehebruch.
Nichts anderes.
Der würde immer zwischen ihnen stehen.
Zwischen ihm und Karin.
Und zwischen ihm und Hans.
Und besonders zwischen ihm und Petra.
Ein unglaubliches Konfliktpotential.
Mit nicht absehbaren Folgen.
Max schüttelte den Kopf.
Sein Verstand sagte ihm.
Nimm das Geld.
Du tust etwas Gutes.
Nicht nur dir.

Aber warum konnte er diese Worte bloß nicht glauben…?

Vivienne

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