Erlöst

Magda hörte die Türglocke.
Sie nickte.
Fast ein wenig abwesend.
Aber nicht überrascht.
Sie hatte den dunklen Wagen vorfahren sehen.
Er stand nun vor der Einfahrt.
Magda wischte die Hände an der Schürze trocken.
Ging langsam zur Tür.
Der zweite Klingelton kostete sie ein Lächeln.
Keine Eile.
Sie wusste, warum sie kamen.
Und sie würde ihnen nicht davonlaufen.
Irgendwie war sie froh.
Die letzten Wochen waren nicht leicht gewesen.
Schlaflos.
Und ständig die Angst.
Die Angst, dass sie kommen würden.
Um sie zu holen.
Und nun waren sie da.
Es fühlte sich fast an wie eine Befreiung…

Magda öffnet die Tür.
Sie erkannte die beiden Gesichter sofort.
Stefan und Walter.
Die beiden wirkten betroffen.
Nicht so nüchtern wie sonst.
Und schon gar nicht ungerührt…
Magda.
Du weißt warum wir kommen…?
Stefans Stimme klang schuldbewusst.
Magda nickte.
Ja.
Ich habe euch erwartet.
Darf ich mir ein paar Sachen einpacken?
Die beiden nickten.
Walters Stimme klang gepresst.
Das fällt uns nicht leicht…
Magda.
Ich verstehe dich nicht.
Das hättest du nicht tun sollen!
Magda drehte sich um.
Tränen rannen über ihr Gesicht.
Das hätte ich nicht tun sollen?
So?
Meinst du…?
Ihre Stimme brach in einem hemmungslosen Schluchzen.
Magda wandte sich ab.
Im Schlafzimmer stand eine kleine Tasche.
Mit dem Nötigsten.
Sie hatte sie schon letzte Woche gepackt.
Es war klar gewesen, dass die beiden sie bald holen würden.
Nur eine Frage von Tagen…

Magda lehnte sich im Wagen zurück.
Ihre Gedanken schweiften…
War sie jetzt eine Mörderin?
Einsperren würde man sie auf jeden Fall.
Die Dauer hing vom Richter ab.
Ob er verstehen würde…
Hatte sie anders handeln können?
Magda schüttelte energisch den Kopf.
Tränen in den Augen.
Nein.
Hatte sie nicht.
Kurt zusehen beim Sterben?
Jeden Tag mehr Schmerzen?
Keine Minute mehr ohne Schmerz?
Keine wirksamen Medikamente zur Linderung?
Kurt hätte noch Monate leben können.
Der Arzt im Spital hatte keinen Zweifel darüber gelassen.
Obwohl Kurt nur mehr 45kg wog.
Obwohl die Haut über seinen Knochen spannte.
Die Krankheit hatte ihrem Namen alle Ehre gemacht.
Krebs.
Dieser Teufel hatte Kurts Körper zerfressen.
Und sich fast überall festgesetzt.
Auch die Leber war mittlerweile befallen.
Seine Augen waren ganz gelb geworden.
Und die Qualen immer unerträglicher…

Regen tropfte an die Scheiben des Autos.
Hätte sie zusehen sollen?
Kurt hatte kaum mehr sprechen können.
Aber sein Röcheln hatte sie auch im Schlaf nicht mehr losgelassen.
Und wie hatte er vor einem Jahr gemeint?
Vor einem Jahr, als ein wenig Hoffnung in ihrem Leben Platz fand.
Wenn der Krebs wiederkommt…
Ich will dann nicht weiterleben.
Du musst mir dann helfen.
Ich will nicht sterben wie ein Tier!
Magda wischte ein paar Tränen weg.
Der Krebs war wiedergekommen.
Kurt musste es gespürt haben.
Oder geahnt.
Trotz der guten Prognosen.
Und zuletzt hatte keine Therapie mehr angeschlagen…
Magda atmete durch.
Walter warf ihr einen prüfenden Blick zu.
Dann wandte er sich wieder ab.
Magda kräuselte ihre Lippen verächtlich.
Die beiden begriffen gar nichts.
Was wussten sie schon von solchem Leid?

Ein alter Kriminalroman hatte sie auf die Idee gebracht.
Dorothy L. Sawyers.
Eine Frau tötet eine reiche Verwandte.
Krebskrank.
Um an ihr Geld zu kommen.
Mit einer Luftinjektion.
Ganz unauffällig.
Aber der Meisterdetektiv war ihr trotzdem auf die Schliche gekommen…
Wie es halt in Detektivgeschichten so der Fall war…
Sie hatte auch keine Wahl gehabt.
Der Hausarzt war misstrauisch geworden.
So viele Schlaftabletten?
Also hatte sie sich eine alte Spritze besorgt.
Und Kurt sterben lassen.
Im Schlaf.
Sie hatte seine Hand dabei gehalten.
Und geweint.
Aber Kurts Leiden hatte endlich ein Ende gehabt.
Endlich…
War das falsch gewesen?
Sicher nicht.
Vor allem nicht, wenn der Arzt nicht stutzig geworden wäre.
So ein plötzlicher Tod?
Das Herz war doch gut!
Er hatte erstaunt geklungen.
Kurt war noch nicht alt gewesen.
Er hätte doch noch länger leben müssen…
Oder besser gesagt.
Vegetieren…
Das Einstichloch hatte der Mediziner zufällig gefunden.
Und dann war ihm die Sache mit den Schlaftabletten eingefallen…

Magda blickte aus dem Seitenfenster.
Die beiden waren schließlich immer öfter aufgetaucht.
Stefan und Walter.
Die zwei Kriminalbeamten.
Man kannte sich schon lange.
Hier in der Kleinstadt.
Sie hatten zuerst nur ihr Mitgefühl bekundet.
Und nach und nach immer mehr Fragen gestellt.
In Detektivromanen funktioniert so ein Plan besser…
Magda seufzte.
Aber sie war auch erleichtert.
Die Tat hatte sie niedergedrückt.
Obwohl sie keine Wahl gehabt hatte.
Kurts qualvolles Dasein.
Sie hätte es nicht mehr ertragen.
Wie lange man sie auch einsperren würde.
Es war das Richtige gewesen.
Das einzig Richtige.
Kurt war jetzt erlöst.
Und das zählte…

Vivienne

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