Ich hatte mich abends neben Ali auf die Couch gekuschelt. Im Fernsehen lief „Criminal Intend“, ich konzentrierte mich aber intensiver auf meinen Mann, der den Arm um mich gelegt hatte. Den Kopf an seiner Schulter und eine Tasse Kaffee vor mir hätte ich mit nichts und niemandem getauscht… Ali war sehr müde, in den letzten Tagen war es spät geworden. Irgendwann merkte ich an seinem ruhigen, gleichmäßigen Atmen, dass er eingeschlafen war. Ich lächelte und ließ den Tag Revue passieren. Richtig, ich hatte Barbara Weber wieder in der Straßenbahn gesehen. Barbara war eine frühere Arbeitskollegin von mir gewesen. Nach vier Kindern wollte sie damals wieder ins Berufsleben zurück. Verständlicherweise… Ich gähnte. Barbara gehörte nicht unbedingt zu den angenehmsten Erinnerungen in der Firma damals. Sie war ziemlich falsch, und sie schimpfte hinterrücks wo immer sie konnte. Da ich auch zu ihren Opfern gehört hatte (schließlich war ich damals als Frau ohne Trauring und Kinder de facto wertlos), war sie bei mir als “Muster ohne Wert“ abgestempelt. Ein paar Mal schon hatte ich sie in den letzten Wochen wiedergesehen, doch ich hatte sie ignoriert…
Aber heute am späten Nachmittag hatte ich Pech gehabt. Schwer bepackt mit den Einkäufen vor dem Feiertag saß ich in der Straßenbahn als sie plötzlich fragte, ob sie neben mir Platz nehmen konnte. Aus den Augenwinkeln erkannte ich sie, ich nickte nur, weil ich gerade mit Albert telefonierte. Ich registrierte ihren Blick auf meine Hand mit dem Ehering… Jetzt bin ich endlich jemand! dachte ich sarkastisch. Das Handy läutete wieder. Eine Freundin meldete sich und wir plauderten kurz… Als ich das Handy wieder einstecken wollte, spürte ich plötzlich Barbaras Hand an der Schulter. „Ich glaube, wir kennen uns…“ meinte sie mit ihrer typischen, leicht verrauchten Stimme. Mist! dachte ich und warf mich in Pose. „Also nein, Barbara, du…“ Ich bin so eine schlechte Schauspielerin, sie musste mich sofort durchschaut haben aber das war mir egal. „Dein Lachen kam mir so bekannt vor“, lächelte sie mich an und ich spürte ihre Hand auf meiner Schulter und dem Arm.
Auf ihre Vertraulichkeiten hätte ich gerne verzichtet, aber ich konnte sie mir schwerlich verbieten. „Ja, wir haben uns verändert! Beide – vor allem unsere Haarfarben!“ Wir lachten beide nicht ganz echt, als sie mich fragte, wo ich denn arbeiten würde. „Firma Z!“ erläuterte ich. „Mittlerweile auch schon eine kleine Ewigkeit…“ Gerade als ich mich meinerseits erkundigen wollte, stand Barbara plötzlich auf. Ich blickte ihr ins Gesicht, das von den letzten Jahren etwas gezeichnet schien. Aber sie hatte nach wie vor ihre knabenhafte Figur, und das gibt ja für viele Männer den Ausschlag. „Vielleicht sieht man sich wieder!“ rief sie mir zu und drückte den Halteknopf. Ich nickte und meinte trocken. „Ganz bestimmt, in der Straßenbahn!“ – Albert schnaufte ein wenig und drehte sich zu mir. Nun, es war fast zehn Jahre her, dass ich Barbara gesehen und gekannt hatte. Und das Leben hatte sie auch nicht gerade sanft angefasst, das verrieten die Linien in ihrem Gesicht.
Die Werbung plärrte los und ich schrak zusammen. Albert rührte sich nicht einmal, sein Mund war leicht geöffnet und er schlief wie ein Kind. Die Erinnerung kehrte wieder… Als Barbara damals halbtags bei uns zu arbeiten begonnen hatte, war das ihr erster Job seit der Bürolehre gewesen. Ihr Mann verdiente als Fernfahrer bei seinen Auslandsfahrten gut, aber die beiden hatten wenig von einander. Freitagnacht kam er meist von seinen Touren heim, Montag früh musste er wieder raus. Aber mit dem Job von Barbara sollte sich das ändern. Barbaras Mann wollte nur mehr in Österreich fahren und abends wie ein normaler Ehemann und Vater daheim sein. Die finanziellen Einbußen sollte das Gehalt von Barbara ausgleichen… Eine Milchmädchenrechnung. Denn ein Jahr zuvor hatte die Familie ein Haus in einer Gemeinde am Land gekauft, im Bezirk Freistadt, und schließlich langte das Geld nicht mehr. Barbaras Gehalt in der Firma musste gepfändet werden und daheim hing der Haussegen schief. Als Birgit einmal mit einer Zahnlücke in die Firma kam, erzählt sie uns, sie wäre ausgerutscht und unglücklich gestürzt. Wir alle aber ahnten, dass ihr Mann ihr den Zahn ausgeschlagen hatte, vermutlich im Streit…
Die Serie lief wieder weiter. Irgendwie hatte ich den Handlungsfaden verloren… Barbaras Mann gab ihr wohl auch die Schuld für die finanzielle Misere. Ich blieb nicht mehr lange in der Firma, in der es selber auch rund ging. Aber ich erfuhr später, dass das Haus der Webers verkauft werden musste und dass sie als Mieter im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses eingezogen waren… Die älteste Tochter, die an sich eigentlich eine versierte Ausbildung erhalten hätte sollen, begann stattdessen zu kellnern, um die Familie zu unterstützen… Ich dachte nach und zog meine Stirn in Falten… Nein, ich glaubte nicht, dass Barbara und ihr Mann noch beisammen waren. Ihr Wohnort Linz verriet es. Ihr Mann wäre freiwillig nie in die Stadt gezogen. Ja, Barbara war wohl gezwungenermaßen nach Linz gekommen: vielleicht für eine neue Ausbildung oder einen anderen Job.
Der Krimi war aus und wieder setze die Werbung lautstark ein – keine Ahnung wer der Mörder gewesen war… Barbaras Träume waren wohl ziemlich brutal an der Realität zerschellt, aber zugegeben hätte das die stolze, rassige Frau nie. Darum auch ihre etwas überstürzte Flucht aus der Straßenbahn – wäre wohl bitter gewesen mir angesichts ihrer seltsamen Lebensphilosophie gestehen zu müssen, dass die eigene Ehe gescheitert war. Wie hatte sie immer regelrecht doziert: Jeder Topf braucht seinen Deckel und jede Frau braucht ihren Mann! Aber nur nicht zugeben, dass ihr eigenes Leben nicht wie erhofft gelaufen war. Lieber die eigenen Lebenslügen wacker hochhalten… Es lebe der Schein!
Vivienne