Moora’s lange Nacht!

Moora wusste dass es nur eine Frage der Zeit war und ihre Verfolger sie ergreifen würden. Sie war jetzt schon vier Tage auf der Flucht und lange würde sie sich nicht mehr verbergen können.

Zweimal in den vier Tagen waren die Eindringlinge ihr so nahe gekommen, dass sie glaubte diese Fremden atmen zu hören.

Der größte von diesen, der sich durch ein besonders lautes Geschrei auszeichnete, schien der Anführer zu sein. Er überragte die beiden anderen um mindestens einen Kopf und seine Gesten schienen auf seine beiden Begleiter einen ebensolch großen Eindruck zu machen wie auf Moora und ihre Familie.

Moora hatte so lange sie sich erinnerte, mit ihren Leuten am Rande des großen Moores gelebt und es war ein ruhiges Leben und soweit es ihr jetzt als wahr vorkommen musste, ein schönes behütetes Leben.

Ihre Gemeinschaft hatte sich hier angesiedelt, als es die ersten Nachrichten von den unüberwindlich scheinenden Eindringlingen gab.

Diese waren wie die Ausgeburt der Hölle plötzlich über die verzweigt in der Tiefebene siedelnden „Hoogs“ hereingebrochen und die Nachrichten hatten lange vor deren Eintreffen ihre Schreckensvisionen vorhergeschickt.

„Hoogs“ wie sie sich selber nannten, oder „Weserer“ wie sie von den anderen, eher in den südlichen Höhenzügen beheimateten Stämmen genannt wurden, waren friedliche Bauern die auch Handel mit Torfsoden trieben, seit ein Vorfahre entdeckt hatte, dass große getrocknete Stücke des Moores in einem Feuer eine enorme Hitze entwickelten und dadurch das darüber erhitzte Fleisch in kürzester Zeit gegart und besonders schmackhaft wurde.

Darum hatte sich eine Gruppe in der Vergangenheit intensiv um die Gewinnung und die Trocknung dieser Moorstücke gekümmert und der ganze Rest des Clans sich um die Ziegen und Schafe gekümmert.

Die Eindringlinge waren schon lange Jahre vor Moora`s Geburt als ziemliche Plage bekannt und durch ihre Übergriffe sowohl auf Hoogs, als auch auf „Golbas“, wie die Höhenbewohner sich selber nannten zur ernsten Gefahr für alle Menschen geworden.

Diese Menschen, die nun nach langen Jahrhunderten der Wanderschaft glaubten hier in dieser Tiefebene eine Heimat gefunden zu haben.

Aus Geschichten, die nach Einbruch der Dunkelheit, durch ältere Onkel und Tanten beim gemeinsamen Mahl zum Besten gegeben wurden, waren Moora und den anderen Halbwüchsigen diese Eindringlinge bekannt, deren Sprache niemand verstand und die immer wieder Ängste bei Moora und den anderen Halbwüchsigen aufkommen ließen.

„Sie haben ein Dorf der Golbas dem Erdboden gleichgemacht, weil diese nicht sofort ihre Vorratsverstecke in den Höhlen gezeigt haben und die jungen Frauen wurden verschleppt, nachdem die Alten und Kinder erschlagen wurden.“ Allgemeines Gemurmel in der Runde der um das Feuer versammelten. Garso, der früher ein guter Krieger und Jäger war und jetzt schon ziemlich alt, schaute geheimnisvoll in die Runde und versuchte hierdurch noch mehr Eindruck für seine Geschichte zu erlangen.

„Die Männer wurden vor die voll geladenen Wagen gespannt und wer nach kurzer Zeit zusammenbrach wurde mit einem Schwerthieb erschlagen.“ Garsos Augen funkelten im Licht des herab brennenden Feuers, was Gelder, Mooras Vater dazu veranlasste einen weiteren Soden aufzulegen.

„Wir brauchen Waffen!“ Gelder hatte sich an den Kreis der um das Feuer sitzenden gewandt und versuchte die Dringlichkeit seiner Forderung mit beschwörenden Gesten zu

unterstreichen.

„Waffen, wir müssen zu den Golbas gehen, nur diese können uns Waffen schmieden und wir müssen dafür mit Soden bezahlen, die wir aus dem Torfmoor stechen. Viele Waffen für viele

Soden!“

„Wir sind nicht geübt um mit Waffen umzugehen. Wir haben schon lange keine Waffen mehr gebraucht und wenn uns die Fremden hier finden was nützen uns die Waffen? Sie sind sehr stark und wir sind schwach.“ Der Schamane, der ein Bärenfell als Zeichen der Achtsamkeit trug und der sich der Hilfe der Götter rühmte war aufgesprungen und hatte Gelder an den Schultern gepackt und diesen fast hysterisch angeschriehen.

„Wir müssen den Göttern ein Opfer bringen, um sie zu besänftigen und um ihre Hilfe zu bitten. Es muss ein großes Opfer sein. Ein Opfer vor dem sie nicht ihre Augen schließen können.

Ein Menschenopfer!“

Moora hörte in etwa hundert Menschenlängen das Getrappel von Pferdehufen und wusste sofort, dass es die Verfolger sein mussten.

Diese waren die ersten, die sie jemals auf dem Rücken eines Pferdes gesehen hatte. In Ihrem Clan gab es nur ein einziges Pferd, welches zum Abtransport der getrockneten Soden vor einen Karren gespannt wurde und nicht etwa zum Transport eines einzigen Menschen.

Moora war es sofort klar, als sie der Reiter ansichtig wurde, dass diese auf dem Rücken der Pferde für die Verteidiger nicht mit den Prügeln und Stangen zu erreichen waren und ihre Brüder und Onkel, als auch ihr Vater keine Chance haben würden ihrem Schicksal zu entgehen.

Und so kam, was kommen musste. Alle Verteidiger des Dorfes brachen unter den wuchtigen Hieben der scharfen Klingen zusammen und hauchten ihr Leben aus.

Die Weiber und Mädchen taten wie ihnen geheißen wurde und flohen als sie der Fremden ansichtig wurden, in das angrenzende Moor.

Durch viele Besuche der dort arbeitenden Torfstecher, meist um ihnen das Essen zu bringen, kannten die meisten hier jeden Pfad und Steg.

Das Getrappel kam näher, Moora hielt den Atem an und duckte sich tiefer in das feuchte, klebrige Geschlick.

Sie dürften sie nicht finden. Ihre Mutter und ihre Schwestern waren genau wie Moora weit in das Moor geflohen, wie Vater es ihnen eingeschärft hatte.

Vater der jetzt vermutlich schon tot war.

Es war der Riese, der sich auf seinem Pferd sitzend mit seinem Schwert einen Weg durch diese unwirkliche Moorlandschaft bahnte. Eine Landschaft, die in unwirkliches Licht getaucht schien.

Gelder hatte mit großer Überzeugungskraft auf die versammelte Dorfgemeinschaft eingeredet und damit den Zorn des Schamanen herausgefordert.

Garso hatte immer die Zuhörer auf seiner Seite, wenn er seine Geschichten erzählte und von den Überlieferungen ihrer Vorfahren berichtete.

Leute wie Garso, mit dichterischem Talent gesegnet, hatten in allen Dörfern eine besondere Stellung und wurden einem Schamanen als ebenbürtig angesehen.

Der Schamane hatte immer seine Beziehungen zu den Göttern zu verteidigen und diese Bedrohung würde für seine Vormachtstellung sorgen, wenn es ihm gelang der Bedrohung durch die Eindringlinge entgegenzustehen. Zunächst musste er allerdings seinen Widersacher Gelder ausschalten.

Gelder hatte sich zunächst mit den Ältesten des Dorfes beraten und darauf gedrungen, nicht mehr zuviel Zeit zu verlieren um den zu erwartenden Angriff zu parieren.

Doch es sollte viel schlimmer enden, als alle befürchteten.

Sie waren in der Frühe gekommen und ihr Geschrei hatte sich mit dem Geschrei der Verteidiger zu einer unverständlichen Melodie des Todes aufgebaut, deren Dissonanzen für Moora, als letztendlicher Beweis der von Vater immer geleugneten Unterwelt gedeutet wurde.

Vater hatte immer angedeutet, dass der Schamane seine Schauergeschichten von der ewigen Verdammnis, nur seiner eigenen Bedeutung wegen erzählte und dieser selbe,r diesen ganzen Unsinn mit Opfern und Göttern nicht glaubte.

Ihr Vater erschien ihr nun nicht mehr als der Weise, der er bisher zu sein schien.

Moora merkte, wie es immer kälter wurde in ihrem Versteck. Doch sie durfte sich nicht bewegen. Die Gefahr entdeckt zu werden schien zu groß zu sein.

Der Riese war bestimmt noch ganz nahe und wartete nur auf ein Geräusch um sie zu finden.

Gelder konnte durch seinen Einfluss, den er sich im Dorf in den letzten Jahren erwarb die Gemeinschaft von neuerlichen Menschenopfern ablenken.

Der Schamane schäumte vor Wut.

Die Abgesandten waren gerade losgezogen um die Waffen zu kaufen, als der Angriff begann.

Nur ein kleines bisschen Ruhe, nur noch ein kleines bisschen Schlaf. Moora merkte dass die Ruhe ihr gut tat. Diese Ruhe sie von der Kälte ablenkte. Diese Ruhe ihr gut bekam. Wenn sie nur noch einige Minuten hier ausruhen könne, würde alles gut werden.

Alles gut werden, ganz bestimmt.

„Frau Mans, mein Name ist Schneider. Kriminal-Hauptkommissar Schneider vom FK 1, dem Fachkommissariat für Kapitalverbrechen eins der Kripo in Nienburg. Ich würde Sie gerne heute noch aufsuchen und Ihnen einige Fragen stellen.“ Frank Schneider hörte am anderen Ende nur aufgeregtes Atmen.

„Hören Sie, Frau Mans? Heute Nachmittag um drei?“ Schweres Atmen am anderen Ende.

„Gut Frau Mans, also um drei?“

„Um drei!“

Frank Schneider legte zufrieden den Hörer auf und ergriff den Aktenordner, den er erst heute früh, direkt nach dem Anruf aus dem Archiv geholt hatte. Einen Aktenordner der den Vermerk trug „Vermisstensache Elke Mans, abgelegt, Verbleib ungeklärt! Dezember 1969“.

Moora bemerkte nicht mehr, dass der Riese ganz nahe an sie herangekommen war, ohne sie zu bemerken. Moora bemerkte auch nicht mehr, das sie ganz langsam in dieser feuchten, klebrigen Masse versank und sie merkte auch nicht, wie die Zeit verging.

Moora war erst 17 Jahre alt, was ihr allerdings nie so richtig bewusst war. Moora lebte in einem Zeitalter, in dem Zeit eine ziemlich unbedeutende Größe war und das Maß der Zeit höchstens durch Sommer und Winter und die Geburt von Ziegenkindern und Schaflämmlein bestimmt wurde. Und von der Veränderung der die verschiedenen Gewächse im Moor ausgesetzt waren. Zeit war noch nicht relativ, eher unbedeutend.

Es würde ganz bestimmt alles gut werden! Wenn sie nur nicht so müde wäre.

Wenn es richtig Nacht würde, könnte sie sich irgendwo ein trockenes Plätzchen suchen und sich ruhig hinlegen und schlafen in dieser hoffendlich langen Nacht………..!

Herbert Kuhn hatte sofort in Loccum bei der Polizei angerufen, sofort als er die Hand im Moor entdeckte.

Die Hand, die ihm zuzuwinken schien. Diese Hand, die ihm Angst machte.

Er hatte sofort seinen Platz auf der Maschine verlassen. Die Maschine, die in jeder Minute sechzehn Torfsoden aus achtzig Zentimetern Tiefe herausschält.

Er hatte sich die Hand genau angesehen. Es war eine kleine, fast zarte Hand. Eine Hand etwa halb so groß, wie seine eigene.

Er hatte fast zwanzig Jahre mittels Spaten eine ungezählte Anzahl Soden aus dem Moor gepult und war zwanzig Jahre mit dem Gefühl der Erleichterung nach Hause gefahren. Mit der Erleichterung, heute keine Moorleiche gefunden zu haben.

Moorleichen aus längst vergessenen Zeiten wurden schon mehrfach gefunden von anderen Torfstechern.

Herbert Kuhn atmete sehr schwer. Er hatte und daran war nicht zu zweifeln, das Opfer einer Straftat gefunden, heute am 6. September 2000!

„Ich habe es immer gewusst, unsere Elke ist nicht mehr am Leben. Wenn sie noch leben würde, hätte sie sich doch gemeldet, bei mir und meinem Mann.“ Die Frau war sehr gefasst, so schien es Frank Schneider. Eine Mutter, die nach mehr als dreißig Jahren vom Tod der vermissten Tochter erfährt, kann gar nicht anders als gefasst sein.

Für Frank Schneider war dies der erste Fall einer Moorleiche und er wusste, für das Ehepaar Mans war es auch das erste Mal, das erste Mal dass ihre Tochter nun als tot gilt. Ihre Tochter, die im September 1969 im Alter von sechzeh, von einem Diskobesuch in dem kleinen Heideort Stolzenau, nicht mehr nach Hause gekommen war. Einem Diskobesuch, auf den sie sich schon die ganze Woche gefreut hatte.

Die Vermisstenanzeige hatte keinerlei Hinweis auf den Verbleib gebracht. Keine Zeugen, keine Hinweise, keinerlei Erkenntnisse und nun die Leiche einer jungen Frau im Moor.

„Wir möchten ein bewährtes Verfahren zur Bestimmung der Familienzugehörigkeit benutzen, um die Identität der Verstorbenen zu beweisen. Dafür brauchen wir Ihre DNA. Ein bisschen Speichel auf einem Wattetupfer genügt.“

„Natürlich, Herr Schneider. Wir machen alles was Sie wünschen.“

„Tut mir leid, Hauptkommissar Schneider ist nicht mehr hier in Loccum, ich glaube er ist beim LKA in Hannover, seit drei Jahren. Hier gibt es nur noch einen kleinen Stab und kein Fachkommissariat eins und der Fall, den Sie ansprechen ist doch schon längst als erledigt zu sehen. Stimmt Herr Professor, die Skeletteile sind von der Rechtsmedizin in Hamburg nach Göttingen verbracht worden. Die Sachlage schien klar. Die Aussagen des Zahnexperten gingen von einem geschätzten Alter zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren aus und das Gebiss war unbehandelt und intakt. Es gab keinen Zweifel. Die Tote war mit der Vermissten identisch. Jedenfalls den Akten nach. Eine DNA- Untersuchung war nicht zweifelsfrei durchführbar, nach dreißig Jahren. Wer dreißig Jahre im Moor liegt, macht halt keinen so guten Eindruck, oder?“

„Wie war noch mal Ihr Name? Kommissar Weltecke, den Namen werde ich mir merken, Herr Weltecke. Nur zu Ihrer Information. Die Moorleiche liegt seit mindest Zweitausend und achthundert und fünfzig Jahren im Moor und nach dieser Zeit werden auch sie und natürlich auch ich keinen allzu frischen Eindruck mehr machen.“

Professor Lehmann konnte sich gut vorstellen, dass sein Gesprächspartner auf der anderen Seite der Leitung den Atem anhielt und doch ärgerte er sich, dass die Skeletteile in irgendeiner muffigen Asservatenkammer fünf Jahre vor sich hintrockneten, anstatt seinem Institut zugeführt zu werden. Seinem Institut für Paläoarchäologie in Göttingen. Und nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass dieser älteste Fund eines fast komplett erhaltenen menschlichen Leichnams nördlich der Alpen überhaupt bekannt wurde.

Eines Leichnams aus der Bronzezeit. Eines Leichnams lange vor Christi Geburt, absolut vergleichbar mit Ötzi!

„Das heißt, der Fall Elke Mans ist doch noch nicht abgeschlossen, Herr Professor?“

„Das Herr Kommissar heißt, Sie stehen wieder am Anfang Ihrer Ermittlungen!“

„Die Tote ist nicht Elke Mans?“

„Nein die Tote ist bestimmt nicht Elke Mans, bei uns heißt sie „Moora“, „das Mädchen Moora aus dem Moor!“

„Dann bleibt mir nichts anderes, als mich bei Ihnen zu bedanken, Sie haben uns sehr geholfen, Herr Professor!“

„Gerne geschehen, allerdings hat Ihre Arbeit fast eine wissenschaftliche Sensation verhindert. Und dass dem nicht so ist, dafür möchte ich mich bei ihnen bedanken.“

„Professoren!“, dachte sich Kriminalkommissar Weltecke in Loccum als er den Telefonhörer auflegte!

„Polizisten!“, dachte sich Professor Lehmann in Göttingen und nippte an seinem längst erkalteten Kaffee, der schon zu lange unbeachtet auf seinem Schreibtisch wartete!

Der Bericht über „Moora“, der ältesten Leiche Nordeuropas aus dem Moor bei Hannover, hat mich veranlasst, ein bisschen zu spinnen.

Die Fakten sind real, Personen sind realen Personen nachempfunden, allerdings ist der Hintergrund und im Besonderen die Tatsache, dass Elke nach wie vor vermisst wird seit dem 6. September 1969 und nicht nur von ihren Eltern und der behinderten Schwester, sondern von allen Freunden, sehr real.

(C)  Chefschlumpf

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