Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Oktober 2003



Es gibt keine Zufälle, Teil 1

„Auch der Zufall ist nicht unergründlich, er hat seine Regelmäßigkeit.“ Was Novalis mit seinen Worten vorsichtig umschreibt, nämlich einen gewissen Anachronismus des Terminus „Zufall“, möchte ich selber noch viel deutlicher ausdrücken: Einen wirklichen Zufall gibt es im Grunde gar nicht, wenn sich uns auch manchmal der verborgenen Sinn des einen oder anderen scheinbar „zufälligen“ Ereignisses nie oder viel später erst eröffnet, alles hat seine verborgenen Bedeutung und Wichtigkeit und es findet sich immer das, was sich finden muss, auch wenn wir den Dingen gerne dieses absprechen. Wäre nämlich wirklich alles oder das Meiste nur Zufall oder „Würfelspiel des Schicksals“, würden wir unserem eigenen Leben jede Bedeutung und Sinnhaftigkeit absprechen…

Ich möchte heute eine halbe Ewigkeit zurückgreifen, in die Zeit nämlich, als bei uns daheim noch fast die ganze liebe Familie unter einem Dach lebte. Meine Wenigkeit arbeitete bei einem bekannten Linzer Meinungsforschungsinstitut, zufrieden und Gott sei Dank ahnungslos, was das Leben in den nächsten Jahren für mich bereithalten würde, und eng verbunden mit meiner jüngern Schwester Beatrice, ebenso rothaarig wie ich an sich, aber mit zur Zeit schwarz gefärbtem Haar, die Distanz zur Familie und ihre Eigenständigkeit auslebend. In Beas Leben standen Veränderungen an, das konnte ich an vielen verschiedenen kleinen Details erkennen. Ein gewisser Louis, ein Arbeitskollege, kam immer öfter in ihren Erzählungen vor, rief auch bisweilen bei uns daheim an (Es gab noch keine Handys!) und schrieb ihr sogar eine Karte aus dem Urlaub auf Sardinien.

Ja, an vielerlei Dingen war ersichtlich, dass sich da „etwas“ anbahnte, aber ich drang nicht zu sehr in meine Lieblingsschwester. Erstens mochte ich das bei mir selber nicht, wenn „eine Liebe“ in der Schwebe lag und die Familie nervte mich mit Fragen. Zweitens war ich in der Zeit viel mit mir selber beschäftigt, weil mich die Arbeit in besagter Firma nicht mehr ausfüllte und ich bei aller Bequemlichkeit, immer öfter ernsthaft an einen Jobwechsel dachte.  Freitags fuhren Bea und ich üblicherweise miteinander im Zug heim, aber an jenem Nachmittag im Spätsommer hielt ich vergeblich nach ihr Ausschau. Schließlich setzte sich die Lok in Bewegung und ich saß allein im Raucherabteil des Zuges. Aber ich dachte mir wenig dabei – Bea arbeite im Vergleich zu mir ein schönes Stück weiter im Süden von Linz und ich war überzeugt, sie wäre später von der Arbeit weggekommen.

Es war noch relativ warm für Ende August, und ich empfand die Kraft der Sonne sehr wohlig als ich mich schließlich auf den Heimweg machte. Kurz nach der Eisenbahnkreuzung kam auffällig langsam ein Auto auf mich zu: ein silberfarbener Golf, ein Zweitürer, wie ich nebenbei registrierte, als der Wagen überraschend ein paar Meter vor mir stehen blieb und ein junger, breitschultriger Mann mit Sonnenbrille ausstieg. „Verzeihung“, begann er leicht umständlich und spielte mit der Sonnenbrille, „wie komme ich denn nach Linz?“ Beinahe hätte ich gelacht. „Städter!“ dachte ich halblaut und musste schmunzeln. Dabei gefiel der junge Mann recht gut, wie ich für mich schnell feststellte. Über 1,80 und dunkelblond, mit relativ langem Haar entsprach er zwar nicht unbedingt meinem bevorzugten Männertyp, ansehnlich anzuschauen war der „Städter“ aber in jedem Fall, keine Frage.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, machte ich ein paar Schritte auf den Lenker des Golf zu. „Sie wollen nach Linz?“ wiederholte ich seine Frage rhetorisch. „Lassen Sie mich überlegen, da gibt es ein paar Möglichkeiten…“ Scheinbar nachdenklich ließ ich meinen Blick prüfend über den jungen Mann gleiten. In der Nähe gefiel er mir noch besser, und seine leicht verlegene Art wirkte natürlicherweise auf mich. Nicht dass mich großartige Gefühle für ihn überkommen wären, aber er unterschied sich einfach wohltuend von den üblichen Gesichtern, die so in meiner Heimatgemeinde zu Dutzenden herumliefen. Außerdem – das merkte ich jetzt erst auf dem zweiten Blick – war der Fahrer sehr gut gekleidet, er trug Markenjeans und ein helles Boss-T-Shirt. Die Sonnenbrille sah auch teuer aus.

Beinahe hätte ich mich vor lauter Schauen verzettelt, aber der junge Mann zeigte nicht im Geringsten eine Regung wie Ungeduld. „Warten Sie“, ich konzentrierte mich nun wirklich auf den Weg. „Passen Sie auf, fahren Sie über den Bahndamm dort vorn. Ist zwar ein Stück etwas steinig, aber so kommen Sie am schnellsten nach Linz.“ Ich deutete mit dem Arm in Richtung Bahnhof. „Fahren Sie die Straße einfach weiter und biegen Sie bei der ersten Seitenstraße links ab. Einfach gerade aus, ja?“ Der Bursch blickte mich  nun leicht skeptisch an. „Verstehen Sie, was ich meine? Wenn Sie dann zu einer Querstraße kommen, einfach rechts abbiegen, in zwei Minuten sind Sie dann bei einer geregelten Kreuzung. Und dort dann links auf der alten B3!“ Warum sah mich der Kerl bloß so hilflos an? Kannte er sich nicht aus? Ich fühlte mich verunsichert. Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?

In diesem Moment bedankte sich der junge Mann und während ich ihm nachblickte, fiel mir erst auf, dass ihn das Kennzeichen am Auto auch nicht unbedingt als Linzer auswies. Offensichtlich war er auch ein Mühlviertler, aber aus einer ganz anderen Gegend. Nachdem er hinter dem Steuer seines Autos verschwunden war, setze ich meinen Weg fort. Ich hatte meine Schuldigkeit getan, und es lag nun an dem Mann selber, nach Linz zu kommen. Dazu muss ich noch anführen, dass es mir immer wieder passiert, dass mich Leute nach dem Weg fragen, auch in Gegenden, wo ich selber Hilfe nötig hätte. Aber offenbar wirke ich so vertrauenserweckend auf die meisten, dass sie fast instinktiv bei mir die nötige Auskunft erwarten. Der Vorfall hätte also im Grunde keine großartige Bedeutung für mich gehabt, trotzdem – und es war nicht das einnehmende Äußere des Golf-Fahrers – kreisten meine Gedanken weiter um das „zufällige“ Aufeinandertreffen, und ich hätte nicht begründen können, warum.

Als ich gut zehn Minuten später daheim ankam, erwartete mich eine große Überraschung. Bea saß bereits bei einem Kaffee und einer Zigarette am Küchentisch und mein Bruder Claudio flüsterte mir verschwörerisch zu: „Ihr neuer Freund hat sie heimgebracht!“ Da schau her, dachte ich bei mir verschmitzt. Das „Vorspiel“ geht in die Endrunde! Ich schenkte mir ebenfalls eine Tasse meines geliebten und von den anderen so verachteten Milchkaffees ein und musste in Gedanken an den Autofahrer unbewusst grinsen… Bea hob etwas überrascht die Augenbrauen. „Ja, was ist denn los? Was ist denn so erheiternd?“ Eigentlich hatte ich sie ja über diesen ominösen Louis ausfragen wollen, aber so plötzlich mit ihrer Frage konfrontiert, war ich nicht in der Lage auszuweichen. Außerdem war es ja egal, warum sollte ich auch nicht erzählen…

„Du wirst es nicht glauben, was mir eben passiert ist…“ Ich streckte mich genüsslich und erzählte Bea amüsiert und voller Ironie von dem Mühlviertler, der sich offenbar in völliger Unkenntnis in der Gegend unseres Bahnhofs verfahren hatte. „Tja, ich hab ihm den Weg dann erklärt, aber irgendwie war ich mir nicht sicher, ob er sich wirklich ausgekannt hat. Mühlviertler halt!“ Ich lachte ein wenig boshaft und griff in meine Jackentasche um mir ein Päckchen Zigaretten herauszuholen. Bea war während meiner Erzählung blass geworden, was ich zuerst nicht registrierte. Sie nahm meine Hand und blickte mich ernst an. „Wie sah denn der Typ aus, erzähl schon?“ Leicht befremded machte ich mich los. „Wie wird er schon ausgesehen haben? Groß, kräftig, dunkelblondes Haar….. Sag, wozu willst du das überhaupt wissen? Kennst du ihn etwa?“

Ich hielt inne, als ich Beas Blick bemerkte, forschend und fast übertrieben dringlich. Und in diesem Moment erst verknüpften sich in meinem Kopf zwei scheinbar völlig unabhängige Ereignisse von heute Nachmitttag zu einem gemeinsamen Nenner. Der junge Mann, dem ich den Weg erklärt hatte, war Louis gewesen, der Mühlviertler Schneiderssohn, der mit Bea in einer Firma arbeitete. Ich hatte richtig kombiniert, der silberfarbene Golf, die Beschreibung, es gab keinen Zweifel: ich hatte ihn tatsächlich kennen gelernt, ohne zu wissen, dass er der junge Mann war, der wenig später die Hauptrolle im Leben meiner Bea übernehmen würde. Louis, der mir im Lauf der Jahre so lieb und teuer wie ein Bruder werden sollte, war bei seiner Suche ausgerechnet auf mich gestoßen. Welch ein Zufall – oder besser gesagt: welch eine Findigkeit des Schicksals. Denn bei diesem scheinbar bedeutungslosen Aufeinandertreffen wurden schon die Weichen  für unsere spätere, tiefe Freundschaft gestellt.

Wie sagt Lessing? „Nichts unter der Sonne ist Zufall..

 Vivienne

 

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