von Vivienne – Mai 2004
Bestimmung
Weißt du.
Ich war ein Kind.
Noch ganz klein.
An meinen Vater kann ich mich nicht viel erinnern.
Er war schwer krank.
Er hatte Krebs.
Und man konnte ihm nicht mehr helfen.
Das ahnte ich nicht.
Der kleine Knirps, der ich war
Oft hab ich gedacht.
Warum der Papa immer im Bett liegt!
Wenn er einmal da war.
Er konnte nicht mit mir spielen.
Obwohl er es gern getan hätte.
Denke ich.
Ich erinnere mich.
Ganz dunkel.
Als er einmal am Schaukelstuhl saß.
Zugedeckt.
Sah er mir zu.
Wie ich den Kreisel drehte.
Oder mit den Legosteinen spielte.
Er sagte nie viel.
Und heute frage ich mich.
Ob er mich wohl gern in den Arm genommen hätte.
Seinen kleinen Sohn.
Seinen Patrick.
Seine Augen glänzten.
Vielleicht vom Fieber.
Ich weiß es nicht.
Aber es hat ihm vielleicht auch viel bedeutet seinen Sohn zu sehen.
Noch zu sehen.
Er wusste, dass er sterben würde.
Sehr bald.
Und sein kleines Glück mag vielleicht gewesen sein.
Seinen Sohn zu sehen.
Zu den Zeiten, an denen er daheim war.
In den wenigen Wochen, die ihm noch vergönnt waren.
Verzweifelung hab ich ihn seinem Gesicht nie bemerkt.
Vielleicht hat er sie auch nur verborgen.
Was weiß ich!
Ich war ja noch so klein.
An einem Abend ging es meinem Vater ganz schlecht.
Ich merkte es nicht gleich.
Nur plötzlich standen die Männer im Wohnzimmer.
Die Männer in der komischen Uniform.
Und sie hatten ernste Gesichter.
Vorsichtig legten sie meinen Vater auf eine Trage.
Ich hatte gerade noch gespielt.
Und sah auf.
Erstaunt.
Ich begriff nicht.
Die wollen mir meinen Papa wegnehmen!
Das ging mir in dem Moment durch meinen Kopf.
Ich ließ mein Auto fallen.
Mit dem ich gerade noch gespielt hatte.
Stürmte zu meinem Vater hin.
Er sah mich an.
Sein Gesicht war ganz fahl.
Fast gelb.
Schweiß floss über sein Gesicht.
Er hatte große Schmerzen.
Das weiß ich jetzt.
Er hatte seinen Blick auf mich gerichtet.
Unverwandt.
Sah mich nur an.
Patrick.
Ganz leise kamen seine Worte.
Ich blieb stehen.
Und dann winkte ich ihm.
Mein Vater lächelte schwach.
Die Tür fiel zu.
Die Männer waren draußen.
Mit ihnen mein Vater.
Meine Mutter weinte die ganze Zeit.
Schluchzte laut.
Sie nahm ich in den Arm.
Und drückte mich.
Ich war verstimmt.
Die Männer hatten meinen Papa geholt!
So einfach.
Und Mama hatte nichts dagegen getan.
Mein kindliches Gemüt kannte keine andere Erklärung.
Meinen Vater sah ich an diesem Abend das letzte Mal.
Er starb wenige Tage später.
Und ich habe ihn fast nicht gekannt.
Aber irgendwie müssen diese Männer vom Rettungsdienst trotzdem einen prägenden Einfluss bei mir hinterlassen haben.
Als ich zum Zivildienst musste, absolvierte ich ihn dort.
Und ich blieb hängen
Keine Woche ohne freiwilligen Dienst.
Ich helfe gern.
Und vielleicht finde ich auch dort ein wenig meinen Vater
Für Chris
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