Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Februar 2005


Ent-Täuschung

Carina irrte durch die Straßen.
Es hatte zu tröpfeln bekommen.
Der Wind zerwühlte ihr Haar.
Es war ihr egal.
Den Kopf voller Gedanken wusste sie nicht, was sie tun sollte.
Nein.
Sie wollte noch nicht heim.
Heim.
Was war das jetzt schon?
Fassade.
Sie lächelte bitter.
Der Regen wurde stärker.
Carina tastet in ihrer Tasche nach dem Knirps.
Verd…!
Der Schirm war ja in der anderen Tasche!
Sie blickte sich um.
Ein kleines Café auf der anderen Straßenseite.
Sie kannte es nicht.
Hatte es überhaupt offen?
Es war offen…
Sie trat ein.
Setzte sich an einen Tisch weiter hinten.
Eine handvoll Leute im Lokal.
Hinter Zeitungen versteckt.
Oder ins Gespräch vertieft.
Niemand registrierte sie.
Carina zog die Jacke aus.
Es war angenehm warm hier.

Minuten später rührte sie in ihrem Verlängerten.
Dachte nach.
Über Harald.
Über ihre Blauäugigkeit.
Und an was sie die letzten dreieinhalb Monate geglaubt hatte.
Wen sie da eigentlich geliebt hatte…!
Wie spät war es überhaupt?
Sie griff mechanisch nach dem Handy.
Fünf Abrufe in Abwesenheit.
Im Lärm auf den Straßen hatte sie keinen einzigen gehört.
Es war auch egal.
Alle waren sie von Harald…
Was wollte sie jetzt tun?
Jetzt, wo sie wusste, dass Harald noch eine andere Freundin hatte?
Sie schüttelte den Kopf beim Gedanken daran.
Noch immer war sie fassungslos.
Sie hatte nichts gemerkt.
Nicht das Geringste!
Sie hatte nie einen Verdacht gehabt.
Er war doch immer so liebevoll gewesen.
So zärtlich.
So zuvorkommend.
Liebenswürdig.
Und so viele Gemeinsamkeiten!

Ach ja!
Gemeinsamkeiten!
Das hatte sie schon öfter gemerkt.
Carina zog die Stirne kraus.
Dass er da nicht ganz ehrlich gewesen war.
Wie sie ihm einmal von Phil Collins vorschwärmte.
Und er ihr beipflichtete.
Begeistert.
Und irgendwann kam sie dahinter:
Er kannte kaum Songs von Phil Collins.
Wusste nicht, wer oder was Genesis war!
Genesis!
Warum tat er das?
Sie fragte sich das damals schon.
Harmoniesucht?
Es musste wohl so sein.
Aber es war wohl nicht nur das.
Auf die Art und Weise hielt er sich seine Damen bei der Stange.
Wir haben ja so viel gemeinsam!
Carina stellte die Tasse hin.
Heftig.
Die Tasse schepperte.
Ja.
Es war alles nicht echt an ihm.
Oder besser gesagt.
Sie durfte nichts für sicher nehmen.
Was er ihr so erzählt hatte von sich.
Nichts…

Die Servierkraft kam und fragte nach einem Wunsch.
Carina überlegte.
War sie hungrig?
Dann schüttelte sie den Kopf.
Liebte er nun italienische Kost?
Und klassische Musik?
Besonders Beethoven?
Und Main Stream Rock?
Was wusste sie von ihm?
Mit absoluter Sicherheit?
Zog er sich immer so edel an?
Und hatte er das nur für sie getan?
Um sich einzuschmeicheln?
Sie presste in der Erinnerung die Lippen zusammen.
Als sie vorhin Harald und seiner anderen Freundin zufällig über den Weg gelaufen war…
Er hatte die junge Frau umarmt…
Streichelte zärtlich ihre Wange…
Und er trug doch tatsächlich Jeans!
Sie hatte ihn nie zuvor in Jeans gesehen.
Ein Chamälion.
Sie, Carina, wusste er mit seiner Eleganz zu bestechen.
Und die andere…
Die suchte wohl einen legeren Typ.
Sogar die Haare hatte er anders gehabt.
Zu ihr war er nie ohne Gel im Haar gekommen.
Und heute trug er es natur.
Einfach nach hinten gekämmt.

Das Handy läutete wieder.
Harald.
Carina warf ihn aus der Leitung.
Was würde er ihr denn erzählen?
Alles Mögliche.
Nur nicht die Wahrheit.
Es interessierte sie gar nicht.
Was war echt an diesem Mann?
Nichts von dem, was sie wusste.
Oder zu wissen geglaubt hatte.
Er hatte ihr etwas vorgemacht.
Sie belogen und getäuscht.
Das Kartenhaus war zusammengebrochen.
Nichts mehr war von Harald übrig.
Nichts, was sie sich von ihm aufgebaut hatte.
Er war völlig konturlos.
Vielleicht liebte er wirklich Smaragde.
So wie sie.
Und vielleicht war er wirklich schon dreimal in Spanien gewesen.
In Andalusien.
Oder auch nicht.
Er war nicht fassbar.
Es konnte so sein.
Oder auch nicht.

Ein Bild stieg in Carina auf.
Eine Felswand konnte man besteigen.
Greifen.
Fassen.
Den Fuß und die Hände in Vertiefungen setzen.
Oder auf Vorsprünge.
Und so nach oben gelangen.
Aber Harald.
Harald war wie eine weiße Wand.
Glatt.
Rutschig.
Nichts wo man Halt finden konnte.
Nicht das Geringste.
Sie nicht.
Und niemand anderer…
Carina winkte der Serviererin.
Zahlte.
Es war vorbei.
So plötzlich, wie es begonnen hatte.

Sie hatte sich ge-täuscht…

Vivienne

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