von Vivienne – Februar 2005
Die Ballade von der Liebe zu sich selbst
Engel 1717 befand sich im Anflug auf die Erde.
Er hatte es eilig.
In einer halben Stunde schon sollte er einen Mann treffen.
Seinen nächsten Auftrag.
Ob er das schaffte?
1717 war sich nicht sicher.
Vor allem hätte er sich gern noch vorbereitet.
Sich überlegt, was tun könnte.
Sagen könnte.
Was hatte Gott zu ihm gesagt?
Rede mit dem Mann.
Er will sich das Leben nehmen.
Du hast die ganze Nacht Zeit.
Also rede mit dem Mann!
Ja, so war Gott nun mal.
Er sagte nichts von retten.
Obwohl er genau das meinte.
Schließlich sah 1717 das Lokal vor sich.
Es war schon spät.
Betrunkene torkelten aus der Tür.
1717 landete.
Zog seine Flügel ein.
Und verwandelte sich in einen Menschen.
Dann trat er ein.
Die verrauchte Luft ließ ihn husten.
Dass Gott auch immer ihm solche Aufträge erteilen musste!
Er sah sich um.
Wo war der Mann, den er treffen wollte?
Ein mittelgroßer Mann an der Bar fiel ihm auf.
Er wirkte dicklich.
Und hatte sicher schon sehr viele Drinks in sich geschüttet.
Sein Gesicht war fahl.
Er stand da.
Das Treiben rund um ihn schien ihn nicht zu berühren.
1771 wusste sofort:
Das war sein Mann!
Er ging auf ihn zu.
Scheinbar zufällig.
Und bestellte sich ein Bier.
Engel können nicht betrunken werden.
Trotzdem hatte 1717 keine Lust, etwas Härteres zu trinken.
Er nippte am Glas.
Sagte kein Wort.
Der Engel war nicht so wie andere Kollegen.
Manche ergriffen sofort die Initiative.
Er konnte das nicht.
Er wartete immer.
Und er wusste:
Es dauerte nie lange, bis die Leute zu erzählen begannen.
Von sich aus.
Auch in diesem Fall irrte 1717 nicht.
Der Mann sah ihn fragend an.
Dich habe ich noch nie hier gesehen.
1717 nickte.
Das stimmt.
Ich bin das erste Mal hier.
Die beiden wechselten banale Sätze.
Schließlich ergriff der dickliche Mann das Wort.
Weiß du.
Ich werde diese Nacht das letzte Mal hier sein.
Morgen früh springe ich von der Brücke.
Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern.
Wozu lebe ich noch?
Meine Frau hat mich verlassen.
Mein Kind ist tot.
Niemand da, dem ich etwas bedeute.
Wen kümmert es, wenn ich tot bin?
Tränen rollten über die Wange des Mannes.
Seine Stimme brach.
1717 sah ihn aufmerksam an.
Was ist passiert?
Der Mann blickte auf.
In seinen Augen standen Tränen.
Ein Unfall.
Mein Kind wurde überrollt.
Es spielte auf der Straße.
Das Auto hat es zu spät bemerkt.
Ich habe das Kind selbst ins Spital gefahren.
Es lebte noch.
Aber die Ärzte sagten, es läge im Sterben.
Man könnte nichts mehr tun.
Mein Kind starb neben mir.
Ich hielt seine Hand.
Und konnte nichts tun.
Gar nichts.
Verstehst du?
Er begann zu weinen.
Ich begann zu trinken.
Ich konnte meiner Frau nicht mehr ins Gesicht sehen.
Sie machte mir keinen Vorwurf, dass sich das Kind nicht retten hatte können.
Aber mein Trinken hielt sie nicht aus.
Und dass wir nicht redeten.
Über unseren Schmerz.
Eines Tages war sie weg.
Ich weiß nicht wohin sie ging.
Ich habe sie nie mehr gesehen.
Der Mann zitterte.
Da trank ich noch mehr.
Ich weiß nicht warum.
Und bald verlor ich auch meinen Job.
Wie konnte Gott das zulassen?
Warum?
Der Körper des Mannes wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
1717 ließ ihn gewähren.
Nach einer Weile beruhigte sich der Mann wieder.
Seine Lider waren geschwollen vor lauter Weinen.
1717 sah ihn mitfühlend an.
Das ist schlimm.
Dir ist Furchtbares widerfahren.
Aber warum gibst du Gott dafür die Schuld?
Sag:
Warum machst du Gott dafür verantwortlich?
Der Mann blickt ihn ungläubig an.
Aber wer sonst?
Ich meine
Er ist doch Gott, oder?
Wer wäre denn sonst dafür verantwortlich?
1717 hob seine Stimme.
Hör zu, mein Freund.
Es gibt zwei Sorten von Unglück.
Das eine macht sich der Mensch selber.
Resultat aus Fehlern.
Für das andere ist niemand verantwortlich.
Manches passiert einfach.
Dinge, für die niemand etwas kann.
Wie der Tod deines Kindes.
Unglückselige Zufälle spielten zusammen.
Das Kind auf der Straße.
Der Autofahrer, der es zu spät sah.
Und die schwere Verletzung, bei der man nichts mehr machen konnte.
Wann hörst auf, dich dafür verantwortlich zu machen?
Der Mann hatte zu weinen aufgehört.
Sein Mund war leicht geöffnet.
Woher weißt du
?
1717 blickte ihn freundlich an.
Warum sonst hast du zu trinken begonnen?
Du hast dir die Schuld gegeben.
Dass deine Frau ging hingegen, war deine Schuld.
Du hättest reden müssen mit ihr.
Über deine Wut.
Deine Selbstvorwürfe.
Das Gefühl der Ohnmacht.
Aber
Engel 1717 hob seine Stimme.
Das ist nicht mehr zu ändern.
Akzeptiere es.
Aber du kannst noch immer etwas tun.
Lass dir helfen!
Hör zu trinken auf.
Und sprich mit anderen Leuten über deine Gefühle.
Mich deinem Herzen Luft!
Achte dich wieder selbst.
Denn das Wichtigste in dir ist die Liebe zu dir selbst.
Der Mann hatte 1717 mit großen Augen zugehört.
Meinst du?
Glaubst du, dass ich das schaffe
?
Aufhören zu trinken?
1717 lächelte.
Das liegt an dir selbst.
Ich kann es nicht für dich tun.
Tu es für dich!
Weil du dich liebst
!
1717 hatte ein gutes Gefühl als er das Lokal am frühen Morgen verließ.
Er hatte den Mann dazu gebracht, über sich nachzudenken.
Statt sein Leben wegzuwerfen.
Und das war ein Anfang
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