Nie aufgemuckt

Carola wälzte sich schlaflos im Krankenhausbett.
Schon seit ein par Stunden.
Es war mittlerweile spät geworden.
Die zweite Insassin schnarchte leise.
Durch nichts aus den Träumen zu holen…
Aber das war nicht der Grund für Carolas Schlaflosigkeit.
Auch nicht die Untersuchung heute früh.
Carola presste den Mund zusammen.
In Erinnerung.
Magenspiegelung.
Ein Schlauch war ihr eingeführt worden.
Aber Gott sei Dank.
Kein Krebs.
Nur Magengeschwüre.
Der Arzt war sehr freundlich gewesen.
Das kriegen wir wieder hin.
Mit Medikamenten.
Und weniger Fett und Kaffee, ja?
Dann wird das wieder!
Sehr schnell.
Nun ja.
Schmerzen hatte sie jetzt keine mehr.
Carola stellte sich die Schmerzen in den letzten Wochen wieder vor.
Schweißausbrüche hatte sie bekommen.
Und am liebsten hätte sie geschrieen.
Ganz laut.

Geschrieen.
Mit ihrem Chef.
Der nur an ihr herumnörgelte.
An allem etwas auszusetzen hatte.
Sie konnte es ihm nie recht machen.
Auch wenn sie sich noch so bemühte…
Carola schloss die Augen.
Das fürchtete sie am meisten.
In ein paar Tagen durfte sie nach Hause gehen.
Und damit musste sie wieder in die Arbeit.
Zurück zu ihrem Chef.
Einem Choleriker.
Der kein gutes Haar an ihr gelassen hatte.
Seit sie in die Firma gekommen war…
Sie war einfach nicht perfekt genug.
Carola fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
Am liebten hätte sie sich übergeben.
Hier und jetzt.
In ihrem Bett.
Aber das war eine andere Übelkeit.
Anders, als wenn sie krank war.
So, als wollte sie ihre Hilflosigkeit aus sich rauskotzen.
Und ihre Angst…
Carola stand auf.
Ging zum Fenster.
Kippte es.
Sie warf einen vorsichtigen Seitenblick zu ihrer Nachbarin.
Die schnarchte leise weiter.
Sie hatte gar nichts bemerkt…

Die Übelkeit ließ nach.
Carola inhalierte die frische Luft gierig.
Wenn sie ehrlich war.
Diese Übelkeit war ein ständiger Begleiter.
Wenn sie so überlegte.
Seit ihrer Kindheit schon.
Ihr Vater war nie zufrieden gewesen mit ihr.
Ewig im Schatten der großen Schwester.
Musterschülerin.
Sie maturierte mit Auszeichnung.
Für sie, Carola, hatte es nicht einmal für einen guten Erfolg gereicht.
Gerade so durch.
Der Vater war enttäuscht gewesen.
Und er hatte es ihr auch gezeigt.
Studieren brauchst du nicht.
Du bringst es nie zu was!
Wir werden dir einen Bürojob besorgen.
Das wirst du doch hoffentlich hinkriegen…
Carola hatte geschluckt.
Und genickt.
Wortlos.
Sie hatte doch immer ihr bestes versucht.
Es tat ihr weh, den Vater so enttäuscht zu haben…

Sie war bald darauf von daheim ausgezogen.
Eine schöne Zeit eigentlich.
Wenn sie ehrlich war.
Niemand hatte ihr gesagt:
Sie würde etwas falsch machen.
Alles war in Ordnung was sie tat.
Nicht ihr damaliger Vorgesetzter.
Nicht ihr Vater.
Niemand.
Bis sie Siegfried traf.
Ihr erster Freund.
Siegfried war nett.
Ja, ganz sicher.
Aber sie war wohl nicht die Richtige für ihn gewesen.
Sie war zu dick für ihn.
Siegfried liebte schlanke Frauen.
Aber sie schaffte es nicht auf Dauer abzunehmen.
Um schön genug für ihn zu sein.
Damals fiel ihr dann auf.
Morgens war ihr immer schlecht.
Fast unerklärlich.
Dabei war sie doch glücklich mit Siegfried gewesen.
Zumindest bis er sie verlassen hatte.
Wegen einer sehr schlanken Frau…

Carola schloss das Fenster wieder.
Sie legte sich nieder.
Deckte sich zu.
Versuchte zu schlafen.
Sie war jetzt wirklich müde geworden.
Sehr müde sogar.
Aber wenn ihre Lider schwer wurden, hörte sie immer ihren Chef.
Dumme Gans!
Kannst nicht einmal ein Fax richtig verschicken!
Warum ich dich eingestellt habe…!
Blöder Trampel!
Ich mache es lieber selber…
Dabei hatte sie die Anweisung des Chefs genau befolgt.
Aber sie musste wohl trotzdem etwas falsch verstanden haben…
Ihr Magen begann zu schmerzen.
Ihre Hand tastete zu dem Schächtelchen auf der Konsole.
Da mussten doch die Schmerztabletten liegen…

Vivienne

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