Raubtier in Not

Etwas irritiert musterte ich unsere Minki, wie sie hastig aus der Futterschüssel fraß. Merkwürdigerweise ohne von Stocki bedrängt zu werden oder diesen ihrerseits anzufauchen. Denn Stocki war bereits den zweiten Tag nicht zur „Raubtierfütterung“ am Morgen erschienen. Ich begann mir Sorgen zu machen. Mein Kater ist zwar groß und sehr wehrhaft, allerdings wildert er streng genommen auch. Und wenn ihn ein Jäger dabei beobachtet hätte, wie er sich wieder einmal über einen Fasan oder einen jungen Hasen hermacht – nicht auszudenken. Auch die Streitigkeiten mit Artgenossen – es gab genügend Kater in der Umgebung – können durchaus mal blutig ausfallen.

Zudem kannte ich Stockis Vorliebe für einen Sonnenplatz mitten auf der Straße. Selbstbewusst und dominant lag er oft Stunden an einem besonders warmen Fleck und falls sich doch einmal ein Auto in unsere Straße verirrte, stand er nur sehr gemächlich auf, streckte sich und trabte fast provokant langsam auf die andere Straßenseite. Ein Tiger weicht nicht der Gewalt, er ändert nur für einen Moment seine Meinung. Ich ertappte mich dabei, wie ich – gerade im Urlaub – mehrmals am Tag vor die Tür ging und nachschaute, ob Stocki sich in der Zwischenzeit wieder eingefunden hätte. Aber weder stand er vor der Tür, noch hatte er sich ein gemütliches Plätzchen im Garten, vorzugsweise in der Petersilie oder mitten in einem Blumenbeet, gesucht. Stocki schien spurlos verschwunden zu sein.

Immer öfter begann ich mich zufragen, ob meinem Kater etwas passiert war. Ja, ich konnte es mir im Grunde sogar sehr gut vorstellen, dass er einem Jägersmann vor die Flinte gelaufen war. Nachdenklich beobachtete ich die Quellwolken am Himmel. Es wurde zusehends dunstiger, und ich ging davon aus, dass wir ein Gewitter in der nächsten Stunde erleben würden. Wie zur Bestätigung tauchte Minki aus einem der Felder gegenüber auf und lief zu mir. Während sie schnurrend um Einlass begehrte, spann ich trübe Gedanken. Ich vermisste meinen Stocki… Bezüglich des Gewitters hatte ich mich nicht geirrt. Bald wurde der Wind heftiger, es begann zuerst zu tröpfeln, dann setzte ein ordentlicher Gewitterregen ein. Blitze zuckten über den Abendhimmel, aber das Donnergrollen hielt sich in Grenzen.

Ein leichtes Gewitter nur, das uns gestreift hatte. Das Trommeln des Regens auf das Dach ließ auch schon wieder nach. Wie sooft bekam ich Lust, ein wenig frische „Gewitterluft“ zu tanken. Nach etwas Donner und Blitz ist die Atmosphäre gereinigt und die Spannung eines heißen Sommertages lässt nach. Ich trat also vor die Tür und nahm eine leichte „Dusche“ in den letzen Tropfen des Gewitters, als ich plötzlich ein klägliches Miauen vernahm. Minki! war mein erster Gedanke, aber lag die nicht im Wohnzimmer auf dem Heizkörper? Richtig, jetzt erst erkannte ich ein orangerotes Häufchen Elend, wie es sich aus dem Weizenfeld und leicht hinkend auf mich zu bewegte. Stocki! Die Majestät der Straße hatte etwas von ihrer Herrlichkeit eingebüßt. Total zerzaust und nass begann der Kater zu schnurren und sich an meinen Beinen zu reiben. Gott, war der schmutzig!

Nicht nur das, wie ich Sekunden darauf feststellen musste. Stocki blutete leicht aus einer Bisswunde am Bauch, wobei ich mir nicht sicher war, ob diese von einem Artgenossen oder von einem kleinen Hund stammte. Ich nahm das arme Bündel an mich, streichelte es und trug es ins Haus. Zehn Minuten später war der Kater eifrig beim Fressen, sein Fell war wieder fast trocken und wir mussten eine weitere Dose Futter aufmachen: Der König hatte anscheinend ein paar Tage nicht gespeist. Nachdem der Hunger des Stubentigers gestillt war, schnappte ich ihn mir wieder und untersuchte die Wunde. Dabei bemerkte ich erst, dass Stocki auch neben der Schnauze verletzt war. Eine blutrote Kruste hatte sich gebildet. Mein Kater haxelte zwar zuerst ordentlich, als ich ihn auf den Rücken legte, aber dann ließ er mich gewähren.

Ein wenig Wundsalbe sollte den Heilungsverlauf beschleunigen, beschloss ich. Falls sich doch eine ärgere Infektion bilden sollte, würde ihm aber der Gang zum Tierarzt nicht erspart bleiben. Ich streichelte Stocki zärtlich und sah dann zufrieden zu, wie er sich auf dem Teppich einrollte. Seine Flanken und sein Schwanz zitterten zwar manchmal im Schlaf, und einmal fauchte er sogar leise, aber er schlief die ganze Nacht durch und auch am Vormittag des folgenden Tages blieb er fast immer im Haus liegen. Nur zum Fressen und um sein Geschäft zu verrichten stand er kurz auf. Am Abend schien Stocki dann wieder der alte zu sein. Sein angekratztes Selbstbewusstsein war wieder erstarkt, auch die Wunde auf dem Bauch schien ganz gut zu heilen.

Mit einem lauten Raunzen sprang er durch die geöffnete Tür in die Nacht, als ich ihn hinausließ. Versonnen blickte ich ihm nach. Mein Kater lebte gefährlich, wie es einem Königstiger anstand, und deshalb machte ich mir auch Gedanken. Diesmal hatte Stocki noch einmal Glück gehabt, aber ein anderes Mal konnte es schon zutreffen, dass der Kater nicht mehr so glimpflich davonkam. Ob Jäger, Auto oder Hund – Gefahrenquellen gab es viele, wahrscheinlich noch viel mehr, als ich mir ausmalen konnte. Der Preis für ein sehr freies, ungezügeltes Leben, wie es nur wenige Hauskatzen führen dürfen….

Vivienne

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