Warum lässt du das zu?

Georg schloss die Haustüre sorgfältig.
Bedächtig ging er ins Wohnzimmer zurück.
Sofie saß noch immer auf der Couch.
Starrte irgendwie ins Leere.
Schien ihn kaum zu bemerken.
Sie schien gar nichts um sich zu registrieren.
Genau genommen.
Georg musterte sie verhalten.
Wie mager sie geworden war.
Und das graue Haar…
Sofies Stimme riss ihn aus den Gedanken.
Wer war denn an der Tür?
Georg schreckte zusammen.
Nichts weiter.
Ein paar Kinder.
Ist ja Halloween…
Ich habe sie weggeschickt.
Sofies Blick verlor sich wieder irgendwo im Raum.
Was auch sonst…
Ihre Stimme klang tonlos.
Fast verloren.
Georg wandte sich ab.
Kämpfte mit den Tränen.
War das fair?
So wie seine Frau immer mehr verfiel?
Warum ließ er das zu?
Der da oben?
Warum?
Was hatte seine Familie denn verbrochen…?

Georg ging in die Küche.
Er öffnete die Kühlschranktür.
Obwohl er keinen Hunger hatte…
Hunger – was war das?
Wann hatte er das letzte Mal so richtig Appetit gehabt?
Auf eine große Portion Schweinsbraten?
Oder ein Stück Torte?
Er konnte sich nicht mehr wirklich erinnern.
Alles war anders geworden.
Frühjahr vor gut dreieinhalb Jahren.
Er erinnerte sich fast minutiös.
Michael, sein jüngster.
Zwölf Jahre alt.
Er war von der Schule nach Hause gekommen.
Das linke Bein tat ihm weh.
Und ein großer blauer Fleck war zu sehen.
Nichts dem er oder seine Frau große Bedeutung beimaßen.
Wahrscheinlich beim Fußball spielen passiert.
Oder beim Basketball.
Das würde sich wieder geben.
Aber die Schmerzen ließen nicht nach.
Und das Hämatom verschwand auch nicht.
Erst ein Röntgen beim Sportarzt brachte Aufklärung.
Ein großer Tumor…

Ein herrlicher Tag im Mai war es gewesen.
Und trotzdem wurde ihm noch immer kalt.
Wenn er zurückdachte.
An das hemmungslose Schluchzen von Sofie.
An die betroffenen Gesichter der beiden älteren Söhne.
Michael selber blieb noch am ruhigsten.
Trotz Bestrahlung.
Trotz Chemotherapie.
Obwohl er alle Haare verlor.
So blass war er geworden.
Sein Gesicht war aufgedunsen.
Wirkte teigig.
Und doch lachte er.
Als der Tumor schrumpfte.
In einer Operation entfernt werden konnte.
Ein Pyrrussieg.
Der Krebs kam wieder.
Bis dahin schien Michael in bester Verfassung zu sein.
Für ein paar Monate zumindest.
Auch wenn er hinkte.
Er lachte fast immer.
Und über seine Perücke machte er Scherze.
Selbst später im Rollstuhl gab er nicht auf.
Fand Freunde über den Computer.
In Chat Rooms und Foren.
Wo er offen über seine Krankheit postete.
Es ging ihm gut.
Trotz allem.
Wird schon werden!
Wie oft hatte Michael das gesagt.
Voller Optimismus.
Und er schien Kraft aus den Worten zu beziehen.
Trotz der Metastasen im Rücken.
Die ihn schließlich in den Rollstuhl gezwungen hatten.

Georg presste die Hände auf das Gesicht.
Sie zitterten…
Seltsam.
Michael schien sich tatsächlich immer wieder zu erholen.
Nach jedem Tiefschlag.
Trotz all der Therapien.
Bis vorgestern.
Wieder war eine Kontrolluntersuchung angesetzt gewesen.
Aber irgendetwas hatte den Arzt stutzig gemacht.
Diesmal.
Er hatte ihn, Georg, und Sofie ins Krankenhaus bestellt.
Die Diagnose übertraf alle negativen Erwartungen.
Er hat Metastasen in den Lungen…
Der Arzt war selber mehr als betroffen gewesen.
Michael war so etwas wie ein Dauergast gewesen.
In diesem Spital.
Und gern gesehen.
Vor allem wegen seiner guten Laune…
Er, Georg, und Sofie hatten nie über den Tod gesprochen.
Obwohl er immer im Raum gestanden war.
Denn Michael durfte einfach nicht sterben.
Er war doch noch so jung!
Aber nun ging der Kampf dem Ende entgegen.
Der Gegner war übermächtig geworden…

Sofie hatte nach den Worten des Arztes nur still geweint.
Und seither sprach sie kaum noch.
Saß nur noch da.
Starrte an die Wand.
Oder an die Decke.
Wie verloren…
Georg wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Gut.
Sie hatten noch zwei Söhne.
Gott sei Dank gesund.
Der ganze Stolz ihrer Eltern.
Und dennoch…
Michaels Krankheit hatte ihr Leben zerstört.
Das von ihm und Sofie.
Er hatte keine Kraft mehr…
Nein.
Woher denn auch?
Und wenn er sich Sofie so vorstellte…
Würde sie je darüber hinwegkommen?
Würde sie je wieder lachen?
Glücklich sein können?
Wie konnte ein gerechter Gott das zulassen?

Nach einer wahren Begebenheit

Vivienne

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