von Vivienne – August 2004
Die Sorgen anderer Leute
Nichts beschäftigt die Leute mehr, als sich um die vermeintlichen Schwierigkeiten ihrer Mitmenschen anzunehmen. Das kam mir wieder in den Sinn, als ich nach einem längeren Telefonat mit Bea den Hörer auflegte und zum Kühlschrank ging, um mir ein Glas Mineralwasser einzuschenken. Kopfschüttelnd ließ ich das Gespräch mit meiner Schwester Revue passieren. Bea hatte erzählt, was in ihrer Firma für ein Gerede entstanden war, nachdem sie sich neulich frei genommen und die Einladung einer Kollegin, mit ihr nach Tschechien auf einen Einkaufstrip zu fahren, ausgeschlagen hatte. Ich gebe ja zu, zu allererst hatte ich schon zugesagt , fielen mir ihre Worte ein. aber dann dachte ich mir, wie gemütlich es wäre, einfach ein paar Tage daheim in aller Ruhe auszuspannen, zusammen mit Louis.
Ich verstand meine Schwester nur zu gut. Louis Vater hatte nach Ostern einen leichten Herzinfarkt erlitten und einige Zeit im Krankenhaus verbringen müssen. Gott sei Dank ging es ihm ganz gut, er musste sich halt in der Schneiderei schonen, aber dafür sorgte schon seine Frau. Die außerdem das erste Mal seit vielen Jahren die Schneiderei für zwei Wochen zugesperrt hatte und mit ihrem rekonvaleszenten Mann auf Urlaub gefahren war, nach Kärnten. Das tat sicher beiden gut. Weniger gut war, was für Gerüchte in der Firma dadurch auftaucht waren. Von einer Schwangerschaft Beas bis hin zu ärgeren gesundheitlichen Problemen ihres Schwiegervaters hatte alles die Runde gemacht. Und das hatte Bea, die sonst eher ungern telefoniert, zum Telefonhörer greifen lassen um sich ihrem Unmut Luft zu machen.
Geht doch niemanden was an, was wir ein paar Tage daheim machen! Furchtbar die Leute! Ich fühlte den Unmut in Beas Stimme einen Moment noch leise in mir nachklingen. Das Mineralwasser war angenehm kühl, und ich zündete mir versonnen eine Zigarette an. Sigrid und Hubert fielen mir in den Zusammenhang ein, mein lieber Cousin und seine schöne Frau, die gerade eifrig am zweiten Kind bastelten, wie Hubert neulich lächelnd berichtet hatte. Wie war das damals gewesen, als Sigrid bei dieser merkwürdigen Unternehmerin in Steyr gearbeitet hatte, Rotspecht, oder nein, Grünspecht, war ihr Name gewesen? Wenn man bedenkt, was diese Frau in völliger Verkennung der Situation wegen Sigrids angeblicher Drogensucht alles in Bewegung gesetzt hatte ! Fast unglaublich.
Und trotzdem liegt es wohl in der Natur des Menschen, dass er sich intensivst mit den Problemen anderer Leute auseinandersetzt nämlich um sich selbst abzulenken von den verschiedenen Schwierigkeiten, von denen man mal mehr, mal weniger beeinträchtigt wird. Ja, es scheint fast, als würde es der Mensch notwendig brauchen, sich mit anderen und ihren großen und ihren verschiedenen Tiefs zu befassen. In erster Linie natürlich, um zu erkennen: ich bin nicht der einzige, den das Schicksal dann und wann an der Kandare hat. Und das ist erstens auch nachvollziehbar und zweitens sehr wichtig. Aber so mancher hat auch weniger menschliche Gründe, um seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken und sich wichtig zu machen.
Dabei dachte ich dabei nicht einmal so sehr an diese verschrobene Spechtin, mit der Sigrid so zu kämpfen gehabt hatte. Die hatte zumindest in gewisser Weise selber geglaubt, dass sie Sigrid etwas Gutes tut. Und natürlich ganz besonders Sigrids seltsamen Verehrer in jener Firma, sein Name war mir jetzt entfallen, der sich so große Hoffnungen auf die jetzige Frau meines Cousins gemacht hatte. Ich hatte nämlich plötzlich an jemand ganz anderen denken müssen, in jener Großhandelsfirma, in der ich vor so vielen Jahren Ali kennen gelernt hatte. Gerda Grundmann, so hatte die Unternehmerin geheißen, die mit ihrem Sohn Ernst den Familienbetrieb geleitet hatte. Ich war noch nicht lange in der Firma gewesen, als ich mit Frau Grundmann das erste Mal zu tun hatte und habe sie als eine kleine gedrungene Frau in Erinnerung, mit feinem Haar, das sie immer dunkelbraun färbte.
Verwitwet war Frau Grundmann schon lange. Ihr Mann war einem langjährigen Krebsleiden erlegen, worauf sich die Frau mit dem damals minderjährigen Sohn in die Arbeit gestürzt hatte. Wenn sie in jene Großhandelsfirma kam, gab sie sich immer leutselig, aber ich kämpfte schon früh mit großen Vorbehalten gegen sie, ja, ich hatte einen regelrechten Widerwillen gegen sie entwickelt. Woran das lag, hätte ich zuerst nicht sagen können, weil sie nie unhöflich zu mir war sondern eigentlich fast immer auch meine Arbeit lobte. Irgendwann begriff ich dann, dass es die Gesprächsthemen der Frau Grundmann waren, die meine Sympathie für diese gewiefte Unternehmerin nicht gerade förderten. Wenn ich nämlich einen Lieferschein oder eine Rechnung für sie fertig machte, begann sie immer mit schöner Regelmäßigkeit zu erzählen, wer denn in ihrer unmittelbaren Umgebung sie stammte aus Marchtrenk – gerade schwer erkrankt oder gestorben war.
Grausige Geschichten bekam ich dann immer zu hören. Von der schweren Brustkrebserkrankung der Frau X bis hin zum langen, qualvollen Siechtum des Herrn Z, dem auch die vierte Chemotherapie keine Heilung gebracht hatte. Eine Geschichte erschütterte mich ganz besonders: ein Familienvater, nicht einmal vierzig Jahre alt und an Knochenkrebs erkrankt, musste in regelmäßigen Abständen eine besonders schmerzhafte Behandlung über sich ergehen lassen, um möglichste lange für seine Familie da sein zu können. die Kinder sind ja noch so klein, die Frau so jung und ganz verzweifelt was sollte er da sonst tun? Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Ich blickte Frau Grundmann erstaunt ins Gesicht, auf dem ein zufriedenes Lächeln strahlte.
Mein Gott, wie ekelhaft! dachte ich entsetzt. Diese Frau weidete sich regelrecht am Leid des Mannes und seiner Familie. Das war nicht zu übersehen, es freute sie richtig, dass sich die Familie so viel mitmachte. Am liebsten wäre ich auf die Toilette gelaufen und hätte mich übergeben. Erst sehr viel später habe ich begriffen, dass Frau Grundmann auf diese Art und Weise den schlimmen Tod ihres Mannes verarbeitete oder zu verarbeiten versuchte. Keine Methode um Sympathien zu gewinnen, aber darum ging es der forschen Unternehmerin gar nicht, in deren Seele wohl ein Teil mit dem langjährigen Gefährten mitgestorben war.
Dass sich alles im Leben irgendwie ausgleicht, bewiesen mir Alis Erzählungen nach ihrem Tod, als Frau Grundmann nach langem Leiden durch einen bösartigen Nierentumor aus dem Leben schied. Weniger ihr schmerzhafter Tod war es, der mich auf diese Idee brachte, als viel mehr die Art und Weise, wie Ernst, ihr Sohn, Alis Schilderung nach die Details dazu in der Großhandelsfirma unter die Leute gebracht hatte. Genauso wie seine Mutter immer, mit einem fast zufriedenen Lächeln im Gesicht immerhin gehörte das Unternehmen jetzt endlich ihm allein Ich dämpfte energisch die Zigarette aus. Der Rauch der Erinnerung löste sich wieder auf. Ein Blick auf die Uhr und ich griff nach der Tasche Ali wartet wohl schon im Supermarkt auf mich!
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