Du fehlst mir so

Georg stand im Bad.
Der Elektrorasierer surrte.
Er befühlte sein Kinn.
Langte nach dem Aftershave.
Der Geruch seines Rasierwassers hing in der Luft…
Herb und männlich.
Georg lief ins Schlafzimmer.
Zog sich an.
Musterte sich kurz im Spiegel.
Gut sah er aus.
Wirklich gut.
Und er tat auch einiges dafür.
Fitnessstudio.
Nicht zu viel Fett.
Und wenig Süßes…
Georg schlüpfte in sein Sakko.
Zupfte noch ein paar Haare zurecht.
Eigentlich war er bereit für den neuen Arbeitsalltag.
Georg hielt inne…
Es konnte schließlich nicht schaden!
Er ging zurück ins Wohnzimmer.
Schaltete den Laptop ein.
Vielleicht hatte sich ja Lisa gemeldet.
Konnte durchaus sein…

Georg lenkte seinen Ford durch den Morgenverkehr.
Im Radio einfallsloses Geplapper.
Müde Scherze.
Dazwischen lärmende Musik.
Wohl aktuell aus der Hitparade.
Oder wie immer sich diese Ansammlung von musikalischem Müll nun nannte…
Georg trat auf die Bremse.
Hupte.
Deutete einem Mantafahrer den Vogel.
Und schimpfte lautstark.
Idioten!
Er knurrte das Wort verächtlich.
Da fing er den Blick einer Fahrerin auf der Nebenspur auf.
Sie schüttelte den Kopf über sein Verhalten.
Georg zuckte zusammen.
Die Frau hatte ja Recht.
Nicht der Verkehr regte ihn so auf.
Nein.
Lisa hatte nicht geschrieben.
Wieder nicht.
Dabei hatte er ewig an der Mail an sie gefeilt.
Letzte Woche.
Mea culpa.
Mea maxima culpa.
Aber sie hatte nicht reagiert.
Lisa hatte ihm nicht verziehen…

Elf Uhr.
Georg holte sich den dritten Kaffee.
Er würde wohl wieder Sodbrennen bekommen.
Aber das war ihm heute egal.
Zumindest momentan.
Er setzte sich wieder vor den PC:
Mit sturem Blick.
Nebenbei bemerkte er ein paar Kolleginnen hinter ihm.
Wie sie tuschelten.
Und ihm kesse Seitenblicke zuwarfen.
Ihre Augen sprachen Bände…
Es interessierte ihn nicht.
Es hob auch nicht seine Laune.
Nur eines interessierte ihn im Moment.
Lisa.
Die dralle, kleine Lisa.
So ganz anders als er.
Optisch zumindest.
Aber sonst…
Keine Frau war so wie sie gewesen.
Keine, die er zuvor gekannt hatte.
Seltsam.
Sie achtete nicht auf ihren Körper.
Sie war oft sehr unvorteilhaft gekleidet.
Und sie war nicht das, was man eine Schönheit nannte…
Aber zu ihr hatte er sich hingezogen gefühlt.
Von Anfang an.
Seelenverwandt…

Georg hatte früher einmal davon gehört.
Es gab solche Frauen.
Die man nie ansehen würde, wenn man sie einmal zufällig traf.
Aber wenn man sie reden hörte, sprühten sie vor Geist.
Esprit.
Witz…
Lisa war so eine Frau.
Und er hatte sie geliebt.
Irgendwie…
Wenn er ehrlich war.
Er liebte sie noch immer.
Seine Kolleginnen interessierten ihn nicht.
Und auch nicht die geistlosen Puten, die er sonst so traf.
Er wollte Lisa.
Er wollte Lisa wieder haben.
Die dicke Frau aus der Buchhandlung gegenüber der Firma.
Mit der ihn mehr verband.
Als je mit einer anderen Frau.
Aber sie wollte ihn nicht mehr sehen…

Georg schnaubte.
Die Erinnerung ließ sich nicht abblocken.
Vor vier Wochen hatte er Lisa zu sich eingeladen.
Wie schon ein paar Male zuvor.
Aber diesmal…
Diesmal hatte er sie herumbekommen.
Endlich.
Er hatte sie verführt.
Und es war einfach großartig gewesen.
Diese Leidenschaft.
Dieses blinde Verstehen.
Als würde man sich ewig schon kennen.
Lisa war so sinnlich.
Was für eine Frau!
Irgendwann war sie eingeschlafen.
Den Kopf auf seiner Brust.
Die Arme um ihn gelegt.
Aber er selber hatte nicht einschlafen können.
Erregt wie ein junger Bursch beim ersten Mal.
Lisa war die Frau, nach der er immer gesucht hatte…
Jetzt wusste er es.

Fast 18:00 Uhr.
Georg stempelte aus.
Ging zum Auto.
Sein Kopf dröhnte.
Aber noch mehr die Gedanken, die ihn nicht losließen.
Diese kleine Schlampe in dem Nachtlokal neulich.
Er war mit ein paar Freunden dort gewesen.
Und hatte mit dieser Rothaarigen rumgemacht.
Halb betrunken schon.
Im Grunde wusste er bis jetzt nicht warum…
Aber wer es Lisa erzählt hatte, das wusste er genau.
Ein feiner Kollege.
Er hatte ihn, Georg, zufällig beobachtet.
Und war am nächsten Vormittag in den Buchladen gelaufen.
Hatte Lisa alles erzählt.
Und wahrscheinlich manches mehr.
Das nicht unbedingt wahr gewesen sein musste.
Und Lisa…
Sie hatte ihm eine SMS geschickt.
Kein böses Wort.
Aber tiefe Enttäuschung.
Und er hatte diese Enttäuschung gefühlt wie eine Ohrfeige…

Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Lisa wollte nicht.
Sie ging ihm aus dem Weg…
Konsequent.
Georg sperrte das Auto auf.
Starrte einen Moment in das Wageninnere…
Georg.
Die Stimme klang leise.
Georg erschrak.
Drehte sich um.
Und sah Lisa ein paar Meter vor sich.
Blass.
Und fast ein wenig schmal geworden…
Für ihre Verhältnisse zumindest.
Mein Gott Lisa!
Er krächzte es.
Er konnte fast nicht reden.
Seine Zunge fühlte sich dick und schwer an.
Fast unbeweglich.
Georg lief auf Lisa zu.
Sie fiel ihm in die Arme…
Georg schloss die Augen.
Packte Lisa geradezu.
Erleichterung.
Ein paar Tränen.
Es war ihm egal.
Er war einfach glücklich.
Lisa war wieder da.
Sie hatte ihm vergeben.
Und er hatte sie so vermisst…

Vivienne

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