Gong schaute mir ganz tief in die Augen, seine Stimme senkte sich und erstarb fast bis zu einem unhörbaren Flüstern.
„Sag mal Marc, mit wie vielen Frauen hattest du schon geschlafen, ich mein, vor deiner Heirat? Hier in China wird über die Europäer gesagt, dass sie schon vor der Hochzeit Liebe machen.“
Ich muss sagen, dass mich diese Frage total überraschte.
Und vor allem überraschte mich die Tatsache, dass dieser bisher so freundliche Chinese, sich für mein voreheliches Liebesleben zu interessieren schien.
Bislang hatten wir über Tage, hier auf der Messe in Shanghai, am Stand eines chinesischen Geschäftspartners, uns lediglich über Liefermengen, Patente und Preise unterhalten.
Vorzugsweise über Patente und was einem Chinesen hierzu so einfallen würde, oder eben auch nicht einfallen wollte.
***
Gong, die rechte Hand des Geschäftsführers, hatte sich schon bei meinen letzten Besuchen immer als überaus kompetenter und absolut zuvorkommender Gesprächspartner erwiesen. Einer, der mit einer für Chinesen schon großzügig zu nennenden Nonchalance über meine zahlreichen Fehler in der für Europäer so schwierigen Aussprache der chinesischen Laute, hinwegzusehen schien.
Nun, ich muss gestehen, dass ich mit einem so überaus freundlichen, jedoch im großen und ganzen mir völlig unbekannten Chinesen, über alles Mögliche sprechen wollte, nur nicht über mein Liebesleben und wenn es auch nur das voreheliche sein sollte.
„Liebe machen vor der Ehe? Ich weiß nicht. Mag sein, dass es so was schon gibt, aber warum interessiert es dich?“
Ich versuchte, trotz meiner Verwunderung, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen.
Gong rutschte auf seinem Sessel hin und her und seine Wangen bekamen ein intensives Leuchten, was seinem olivfarbigen Gesicht etwas Spitzbübisches gab.
Ganz ohne Zweifel, Gong hatte etwas auf der Seele. Vielleicht machte die Tatsache ihn ein wenig zu mutig, dass Aimee heute früh den Wunsch verspürte, anstatt hier mit mir Pflichtbesuche auf der größten Industriemesse, in Chinas am schnellsten wachsender Stadt zu absolvieren, ihrem Hobby, dem Shopping nachzugehen.
Hier, so ist zu vermuten, schien es genau so viele Shoping-Mall`s wie Chinesen zu geben, unendlich viele, wie es durch das Gewimmel auf den Straßen erschien.
Ja doch, man weiss es ja, jeder fünfte Mensch auf der Welt ist Chinese.
Amerika ist in allen Belangen führend. In der Wirtschaft, dem Militär, in Politik, Kultur und Wissenschaft zeigt die Vormacht des Westens, dem volkreichsten Land der Erde den Weg in die Zukunft. Und das fleißigste Volk der Erde ist der wohl fleißigste Schüler, den man sich in Amerika und auch in Europa vorstellen kann.
Nicht nur in Amerika und Europa vorstellen sollte.
„Ihr Europäer seid doch glückliche Menschen. Ich möchte auch so glücklich sein wie Ihr. Und ich möchte auch so reich sein wie Ihr!“
Gong machte nun ein sehr freundliches, um nicht zu sagen glückliches Gesicht.
Ich, jedoch, muss wohl doch ziemlich blöde geschaut haben, was Gong mit lautem Lachen quittierte.
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Vor ein paar Tagen war es Gong, der uns in seinem alten Volkswagen Santana in sein Dorf, etwa zweihundert Kilometer nördlich der Industriemetropole Shanghai fuhr, um uns im Restaurant seines Bruders königlich bewirten zu lassen.
Vier Jahre zuvor waren es meine Frau und ich, die ihn in unserem Heim bewirteten, nachdem wir uns in Hannover während der Messe kennen und schätzen gelernt hatten und wir ihn ganz spontan zu uns nach Meersburg eingeladen hatten.
Wir hatten ihm meine badische Heimat gezeigt und diese schien ihm auch sehr gut zu gefallen.
Nun also in China, hatten wir Gongs Heimat besucht und wurden durch seinen Bruder bewirtet
Wir wurden sehr reichhaltig bewirtet und kamen uns dabei wie exotische Vögel in Hagenbecks Tierpark vor.
„Langnasen die unsere Sprache sprechen, mit denen man sich unterhalten kann und die uns vom Westen erzählen können!“
So, oder so ähnlich muss wohl die Propaganda geklungen haben, die dann zahlreiche Besucher zu dem kleinen Restaurant geführt hatte.
Zumindest war die Propaganda in diesem Falle äußerst erfolgreich.
Umringt von einer Horde sich dabei doch absolut diszipliniert gebender Kinder und Jugendlicher, hatten wir den Wagen verlassen und das Gasthaus betreten, in dem wir von der angetretenen Küchenbrigade respektvoll begrüßt wurden.
Sie alle trugen blütenweiße Kittel und ihre Haare unter blauen Plastikmützen verborgen und verneigten sich beinahe bis zum Boden.
Aimee war sofort begeistert, was sich wieder einmal dadurch zeigte, dass sie wie ein kleines Mädchen in der aufgeräumten und bis auf ein paar Tische und Stühle nahezu leeren Gaststube herum sprang. Was den hinter uns in den Gastraum drängenden Dorfbewohnern doch wohl sehr seltsam vorkommen musste.
An der Stirnwand des Raumes hing der „Gottvater“ des modernen China, wie eine Spruchleiste des handgemalten Portraits auswies, Mao Tsetung.
Der einstige Diktator, hier in fortgeschrittenem Alter portraitiert, konnte den Kontrast der sich uns in Wirklichkeit bot nicht verleugnen.
Der Kontrast in einem sich in die Neuzeit katapultierenden Staates, dessen Bevölkerung sich anscheinend noch in den Revolutionswirren von über fünfzig Jahren Dauer, verloren hatte.
Wir waren nach unserem Start, heute früh in Shanghai, durch die verschiedensten Welten Chinas gefahren und bei jeder neuen Ansicht die sich uns bot, beeilte sich Gong uns zu versichern, dass hier noch viel gebaut werden müsse.
Hauptverkehrsmittel muss wohl doch noch, neben ungezählten Fahrrädern, der Ochsenkarren sein. Laut hupend pflügte Gong sich seinen Weg durch das Gewusel, welches an Intensität erst nachließ, als wir die autobahnähnliche Schnellstraße erreichten.
Durch teils sehr eintönige Landschaften, in denen sich wiederum sehr plötzlich, atemberaubende Bauwerke und kilometerlang scheinende Fabriken bestaunen ließen und Dörfer die von Hundertausenden von Menschen bewohnt sein mussten, wie Gong auch sogleich bestätigte.
Dörfer in denen sich fensterlose Bruchbuden mit Villen abwechselten, die sehr viel Reichtum verrieten. Ein Land vor dem großen Sprung, den Mao schon vor sechzig Jahren sah. Allerdings zu seinen Lebzeiten, auch immer zu verhindern wusste.
***
„Gong, ich spreche nicht so gerne über intime Dinge wie Liebe und schon gar nicht über Liebe vor der Ehe“, versuchte ich mich aus dieser für mich sehr unangenehmen Situation zu retten.
Gong schaute mich mit überlegen wirkendem Gesichtsausdruck an. „Wir Chinesen sehen es doch jeden Tag im Fernsehen. Wir können dank Satellitentechnik das Fernsehen der ganzen Welt in unsere Häuser holen und was wir sehen, gefällt uns ganz ausnehmend. Ihr Europäer führt ein sehr gutes Leben. Wir Chinesen müssen von Euch und vor allem von Amerika lernen.“
Chinesen lernen sehr schnell.
Und Chinesen würden springen. Mao Tsetung würde es nicht mehr verhindern können.
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Aimee war gut aufgelegt an diesem Tag, in dem wir durch Gong aus dem Molloch Shanghai herausgeführt und in die eigentliche chinesische Wirklichkeit verfrachtet wurden.
Aimee, die selber aus einer ganz anderen Welt als der meinen stammte und die es sichtlich genoss, sich mit den Leuten des Dorfes zu unterhalten, die selber in ihrer nordkanadischen Dreisprachigkeit aufgewachsen, schneller und umfassender in die chinesische Sprachwelt eintauchte, als es mir je möglich sein würde.
„Hier das ist mein Vater Chenbiong und das seine Frau Liuiji, meine Stiefmutter.“
Gong war erkennbar stolz, und Chenbiong und Liuiji verneigten sich vor den Gästen, die es ihnen sehr ungeschickt nachzumachen versuchten
Mir war es, ob meiner anerzogenen Zurückhaltung, natürlich sehr unangenehm, so respektvoll begrüßt zu werden. Respekt, so wusste ich aus zurückliegenden Chinareisen, vornehmlich nach Taiwan, gebührte zuvörderst den Ahnen und den Alten und zu beiden wollte ich mich doch noch nicht zählen.
„Vater hatte früher in einer nordchinesischen Kohlenzeche geschuftet, bis er meine Mutter geheiratet hatte und hierher kam, um auf dem Bau zu arbeiten, das war direkt nach der Kulturrevolution“.
Chenbiong hatte bei den Worten seines Sohnes heftig genickt, um damit dessen Worte zu unterstreichen.
Wir hatten mittlerweile an dem Tisch in der Mitte des Raumes Platz genommen. Liuiji, wohl etliche Jahre jünger als ihr Stiefsohn Gong, hatte die anderen Dorfbewohner aus dem Gastraum verscheucht und kam, nach draußen Entschuldigungen murmelnd, rückwärts zur Eingangstür herein.
Ein kleiner Zwischenfall lies mich dann doch ein wenig an meinen Chinesischkenntnissen zweifeln.
Ein spindeldürrer Chinese mittleren Alters, hatte mir eine Flasche Mineralwasser gebracht und weil ich ablehnte, ich hatte keinerlei Bedürfnis jetzt vor dem Mal etwas zu trinken, sich laut schimpfend abgewandt und war in der Küche verschwunden.
Ich hatte ihn wohl nicht richtig verstanden und schaute daher Gong fragend an und konnte erkennen, dass diesem der Zwischenfall sehr peinlich war.
„Bitte, nimm es dem kleinen Li nicht übel. Das Gefängnis hat ihn schlicht um den Verstand gebracht.“
„Gefängnis?“
Ich schüttelte den Kopf und sah Gong fragend an.
„Als Student gehörte er zu einer Gruppe, die politische Reformen forderte und wurde verhaftet und eingesperrt. Es war eine gewaltfreie, religiös motivierte Gruppe. Als man ihn nach fast zwanzig Jahren Arbeitslager entließ, war er so.“
Gong zuckte mit seinen Schultern und machte ein bekümmertes Gesicht.
Mittlerweile wurde aufgetischt und es wurde ruhig in der Gaststube. Ich lies meine Gedanken schweifen.
Dieses Land steckte voller Extreme. Auf der einen Seite ein Molloch von einer Großstadt, der sich nicht hinter Betonansammlungen wie Los Angeles oder Tokio zu verstecken brauchte und in der das Wort Luxus eine völlig neue Dimension zu erhalten schien, zumindest wenn man sein Hotelzimmer als Maßstab nahm.
Auf der anderen Seite das menschenreichste Volk der Erde, in deren Lebensumständen sich die jahrtausendelange Entwicklungsgeschichte der gesamten Erdbevölkerungen widerzuspiegeln schien, gewissermaßen eingefroren, wie im ewigen Eis eines mächtigen Himalaya-Gletschers.
„Schau Dir das an Marc! Köstlich, dieser Fisch! Ich bin begeistert.“
Aimee riss mich aus meinen Gedanken. Sie hatte eine Vorliebe für Fisch aller Art und konnte damit nicht hinter dem Berg halten.
Gong sah Aimee besorgt an und bemerkte lakonisch: „Seeschlange!“ und fragte sie, ob etwas mit dem Essen nicht in Ordnung wäre.
Wahrscheinlich hatte er solche Gefühlsausbrüche bei Europäern nicht erwartet.
Ich war etwas ratlos weil ich befürchtete, Aimee`s Temperament nicht umfassend erklären zu können.
Aimee ihrerseits, hatte sich schon an die versammelte Familie gewandt und versuchte in blumenreicher Sprache ihrer Verzückung Ausdruck zu geben, wobei einige Passagen in der Sprache ihres eigenen Volkes auch nicht weiter zur Erhellung beitrugen, was sich am Gemurmel und den tiefen Blicken der Anwesenden zueinander, bemerkbar machte.
„Alles in Ordnung, Gong! Aimee liebt Seeschlange und will dieses zur allgemeinen Kenntnis bringen.“
Gong lehnte sich befriedigt zurück, was Liuiji dazu veranlasste, Aimee ein zusätzliches Stück Schlange in die Schale zu legen, was diese wiederum wortreich, aber vergebens, abzuwehren versuchte.
Großes Geraune ging durch die Anwesenden. Ein kleiner dicklicher Chinese, gefolgt von zwei bildhübschen schlanken jungen Damen und einer ebenso bildhübschen, aber etwas älter scheinenden Frau, tischten weitere Köstlichkeiten auf, die Gong wortreich erklärte, nicht ohne seinen Bruder sowie dessen Frau und deren beiden Töchter vorzustellen, die sich bei Nennung ihrer Namen tief verbeugten, was Aimee und mich veranlasste es ihnen gleichzutun.
„Mein Bruder hatte gehofft, dass die zweite Tochter endlich ein Sohn wäre. Du glaubst gar nicht Marc, wie viel er für das zweite Kind bezahlen musste.“
Gong zog eine Augenbraue hoch, als ich erwiderte:
„Du meinst, an Bestechungsgeld bezahlt hat, bei der örtlichen Parteileitung, für den verbotenen zweiten Versuch?“
Ich versuchte, den Satz so unbekümmert auszusprechen, wie es mir gelingen konnte.
Es schien mir nicht sehr gut gelungen zu sein, was ich an den Gesichtern der Familienmitglieder erkennen konnte. Diese schauten ziemlich konsterniert und ich hatte sofort das Gefühl, in ein Wespennest gestochen zu haben.
Der Rest des Males verlief in etwas gedrückter Stimmung, die sich erst aufhellte als wir die mitgebrachten Geschenke an die Anwesenden Familienmitglieder verteilten und uns auf die beschwerliche Rückfahrt vorbereiteten.
„Marc, ich müsste mal für kleine Mädchen.“
Aime hatte deutsch mit mir gesprochen und wurde von Liuiji nach draußen geführt, nachdem ich diese gefragt hatte wo die Toiletten wohl seien.
Etwa zwei Sekunden später stand eine völlig verwirrte Aimee mit versteinertem Gesichtsausdruck in der Gaststube, die beinahe unhörbar flüsterte:
„ Ich glaub, ich halte noch durch bis Shanghai, wenn wir nur jetzt sofort losfahren könnten“
Toiletten im ländlichen China bestehen aus einem Betonblock, der oben und vorne offen ist und lediglich über ein Loch im Boden verfügt. Diese stehen auf der Rückseite der Restaurants und Wasser und Seife, sowie eine Türe sucht man vergebens.
Ich hatte wohl vergessen, Aimee vorsorglich auf diesen Umstand hinzuweisen.
***
„Hattest Du viele Frauen vor Aimee, Marc?“
Gong holte mich mit der Wiederholung seiner Frage aus meiner Besinnlichkeit zurück.
„Ich war schon mal verheiratet, bevor mir Aimee über den Weg gelaufen ist.“
Gong schien noch nicht ganz zufrieden zu sein, mit meiner Antwort.
„ Du hast Aimee also ganz ohne Vermittler geheiratet, ich meine so ganz ohne irgendjemanden?“
„Aimee hat mich aus einem Versandhauskatalog ausgesucht“,
versuchte ich zu scherzen.
Gong bekam wider seine geröteten Wangen.
„Ihr seid zu beneiden, ihr Europäer. Wir Chinesen werden wohl bald genauso glücklich sein können wie ihr“.
Ich schaute Gong an und musste mir eingestehen, dass er wohl Recht hatte, wenn dieser Fortschritt auch noch einige ganz wesentliche Veränderungen diesem Land der Mitte bringen würde.
***
Chinesen sind, wie schon gesagt, sehr gelehrig. Und, das Entscheidende: Chinesen haben sich immer streng unter Kontrolle.
So, wie auch meine Aimee, die über die gesamte Dauer der Rückfahrt ganz still vor sich hinstarrte.
© Alpha Siera 2017 chefschlumpf A.S.