Mir fehlt die Kraft

Die Sonne blendete Hilde.
Sie richtete sich auf.
Stimmengewirr auf dem Gang.
Die Tür zum Krankenzimmer ging auf.
Eine Schwester trat herein.
Grüßte freundlich.
Ließ die Jalousien ein wenig herunter.
Hell genug?
Sie lächelte Hilde an.
Frühstück kommt gleich.
Heißer Kaffee und Kipferl.
Sie trat zu Hilde ans Bett.
Wollen Sie im Bett frühstücken?
Hilde schüttelte den Kopf.
Eigentlich wollte sie gar nichts.
Sie stand langsam auf.
Ging ins Bad.
Putze die Zähne.
Ihr Gesicht war blass.
Hilde lächelte bitter.
Im Krankenhaus werden doch alle blass.
Nicht wahr?
Stefan war noch viel blasser geworden.
Und sein Mund lächelte nicht mehr.
Natürlich.
Die Schmerzen…

Hilde rührte lustlos im Kaffee.
Die anderen beiden Patientinnen plauderten eifrig.
Eine sprach davon, dass sie morgen heimgehen dürfte…
Hilde verkrampfte ihre Faust.
Das durfte sie auch.
Morgen oder übermorgen.
Ein Kreislaufkollaps war keine so große Sache.
Und wenn er ihr nicht mitten auf der Straße passiert wäre…
Hilde wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
Für einen Moment war das Leid wieder übermächtig.
Aber sie durfte sich nicht gehen lassen.
Und heute Vormittag würden die Kinder anrufen.
Sie hatten es versprochen.
Sie wollte schließlich wissen, wie es Stefan ging.
Den sie gerade nicht besuchen konnte.
Stefan, der schon Wochen im Spital lag.
Den größten Teil des letzten Jahres dort verbracht hatte.
Hilde biss von ihrem Kipferl ab.
Es schmeckte wie Papier…

Später spazierte sie durch die Spitalsgänge.
Das Handy im Schlafrock eingesteckt.
Sie musterte die Patienten.
Eigentlich sahen sie aus wie die Leute auf den Straßen.
Manche wirkte fröhlich.
Andere waren von Leid gezeichnet.
Einige blickten teilnahmslos vor sich hin.
Und der da vorn schimpfte wie ein Rohrspatz.
Sie verstand nicht, warum er sich aufregte.
Eine eigene kleine Welt.
Das Krankenhaus.
Aber die Menschen waren trotzdem dieselben…
Das Handy vibrierte.
Hilde nahm das Gespräch an.
Mama, wie geh es dir?
Ihre Tochter Karin.
Ja.
Ich war bei Pappa.
Es geht ihm wie alle Tage.
Der Arzt hat nicht viel gesagt.
Die Werte sind nicht gut.
Aber das wissen wir ja ohnedies alle.
Ihre Stimme klang plötzlich bemüht fröhlich.
Er hat mir etwas aufgeschrieben.
Für dich.
Liebe Grüße!
Hilde konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Stefan dachte nie an sich.
Nur an seine Familie.
Seit sie beisammen waren.
Und das seit bald dreißig Jahren…

Hilde hatte nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war.
Eine Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken.
Geht es Ihnen gut?
Die Frau war nicht groß und sie sah unscheinbar aus.
Hilde wollte sich abwenden.
Was ging das diese Person an?
Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle.
Sie fühlte die Hand der Frau.
Ihre Stimme klang beruhigend.
Minuten später saßen sie in der Kantine.
Vor sich eine Tasse Tee.
Und Hilde hatte zu erzählen begonnen.
Ohne Aufforderung.
Die Frau hörte zu.
Ohne ein Wort…
Stefan und ich.
Wir sind über fünfundzwanzig Jahre verheiratet.
Unser Leben war immer wunderbar.
Wir haben ein Haus gebaut.
Mit Garten.
Zwei Kinder.
Unkompliziert.
Sie studieren.
Der Sohn steht vor dem Abschluss an der Fachhochschule…
Die Frau blickte Hilde an.
Nickte.
Hildes kleine Hände verkrampften sich.
Vorletzten Winter bekam Stefan plötzlich Halsschmerzen.
War immer heiser.
Aber er holte sich nur etwas aus der Apotheke.
Schließlich habe ich ihn doch zu einem Arzt geschickt.
Hilde schluchzte wieder.
Er hat uns lange nicht gesagt was los ist.
Bis es nicht mehr ging.
Kehlkopfkrebs.
Er müsse ins Spital.
Operation und Chemotherapie.
Bestrahlungen.
Aber er würde es schaffen.
Er hat uns das versprochen.
Immer wieder.
Hildes Blick war durch Tränen verschleiert.
Das Gesicht der Frau gegenüber hatte keine Konturen mehr.
Er war so tapfer.
Immer wieder redete er nur von einem.
Dass er gesund werden würde.
Aber er spielte uns allen nur etwas vor.
Er weiß, dass er sterben wird.
Und in der Nacht weint er heimlich.
Er würde es nie zeigen.
Nie vor uns.
Aber ein Pfleger hat es uns verraten.
Und nach der zweiten Operation hat er seine Stimme verloren.
Er kann nicht mehr reden…
Ist das nicht furchtbar?
Ich ertrage es nicht mehr!
Woher soll ich nur die Kraft nehmen?
Woher?

Hilde wusste nicht, wie lange das Schweigen dauerte.
Die Frau lächelte sie an.
Glück ist ein Darlehen.
Man weiß nie, wann man es zurückzahlen muss.
Aber vergessen Sie nicht.
Sie und Ihr Mann.
Sie hatten eine wundervolle Zeit miteinander.
Und davon werden Sie einmal zehren können.
Das Leben ist noch nicht vorbei.
Sie haben Ihre Kinder.
Irgendwann auch Enkel.
Ganz sicher.
Der Regen hört einmal auf.
Und die Sonne scheint wieder.
Sie blickte Hilde fast liebevoll an.
Auch wenn es jetzt nicht danach aussieht…
Lassen Sie sich nicht fallen!
Hilde hörte ihr zu.
Und dachte über diese Worte nach.
Später lächelte sie als die Kinder auf Besuch kamen.
Sie lächelte das erste Mal seit langer Zeit.
Und es fühlte sich gut an.
Morgen konnte sie das Spital verlassen.
Das Leben geht weiter.
Man vergisst das so leicht…

Nach einer wahren Begebenheit

Vivienne

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