DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – August 2003
Der 100. Beitrag von „Ohne Scheuklappen“:
Fast wie eine Sklavin…
Mein Praktikum bei einer Bezirkszeitung vor mehr als zwei Jahren brachte mich nicht nur in der Entwicklung meiner Fähigkeiten weiter dieser Monat in der Redaktion war – vielleicht können Sie sich, liebe Leser, noch an einen anderen Beitrag von mir über jene Zeit erinnern (Auf frischer Tat ertappt) teilweise äußerst witzig, bisweilen nachdenklich, aber immer sehr lebendig, lebensnah. Ganz zum Unterschied zu dem, was man öfter in Schulen oder auf Universitäten lernt: ich bekam es mit echten Menschen zu tun und deren Schicksalen, und konnte auch erkennen, dass hinter einer Schlagzeile oder einem unscheinbaren Einspalter manchmal die ganze Tragödie von jemandem steckte, dass Abgründe sichtbar wurden, die mich selber demütig machten gegenüber den Problemen und Fallstricken meines eigenen Daseins…
Ein ruhiger Mittwochnachmittag kroch träge dahin. Die neue Ausgabe war endlich in Druck gegangen, der Stress fiel von uns ab und bei einer Tasse Kaffe ließ ich mir durch den Kopf gehen, was heute noch anstand. Mehr als ein paar Unfallberichte von der Gendarmerie holen und die Meldungen dazu verfassen, würde wohl nicht mehr passieren, als mir einfiel, dass sich ja heute Nachmittag auch Almuth Hörzinger angesagt hatte. Die Hobby-Malerin stellte seit kurzem ihre Aquarelle in der Konditorei Kastlinger aus, in derselben Straße, in der die Redaktion ihr Büro hatte. Gut, dass mir das noch eingefallen war, um ein Haar hätte ich darauf vergessen. Da wäre ich in der Tat wohl etwas überrascht gewesen, wenn es den Besuch so unerwartet hereingeschneit hätte.
Ich überlegte mir also schnell etwa ein halbes Dutzend Fragen und war davon überzeugt, ich würde damit mein Auslangen finden. Um 14:00 Uhr erschien pünktlich die Künstlerin, eine hübsche, gepflegte Frau um die Vierzig, wie ich vorsichtig schätzte. Frau Hörzinger folgte mir, nachdem ich sie begrüßte hatte, in einen Nebenraum, während ich meinen Block und den Kugelschreiber vor mir auf den Tisch legte. Ich hatte vor, das ganz routinemäßig abzuspulen. Uli, die Redakteurin, hatte mir zwar einen Mehrspalter zugesagt, aber da in der Redaktion heute wirklich nichts Wichtiges zu geschehen hatte, wäre ich selber auch gerne ein wenig früher heimgefahren. Dieses Interview würde meine letzte Großtat für heute sein…
Frau Hörzinger, ging ich nach ein paar Floskeln gleich in medias res vor, Frau Hörzinger, wie sind Sie eigentlich zur Malerei gekommen? Stereotype Frage, ich weiß. Die dunkelhaarige Frau nippte am Kaffee, den ich ihr angeboten hatte, und sah mich überaus freundlich an. Ihre Hände hatte sie leicht ineindergekrampft, wie mir schien, die Knöchel waren geschwollen, und ich fragte mich, wie man mit diesen Händen überhaupt malen konnte. Frau Hörzingers Anwort ließ mir aber keine Zeit zum Überlegen. Wissen Sie, ich habe nach der Scheidung von meinem Mann zu malen begonnen. Wir waren 21 Jahre verheiratet und haben zwei Kinder, die aber schon erwachsen sind… Malen hat mir geholfen, wieder zu mir selber zu finden, es war nicht immer einfach in den letzten Jahren und durch meine Aquarelle habe ich auch immer wieder versucht, das Schöne darzustellen, das mir begegnet ist… Frau Hörzinger bekam einen leicht verträumten Blick. Verstehen Sie, das kann eine bunte Landschaft sein, das kann ein prächtiges, altes Haus sein oder einfach nur eine Schale mit Obst, die ich auf meinem Tisch stehen habe.
Die Malerin wurde lebhaft und begann leicht mit ihren Händen zu gestikulieren. …Farben mischen, aus meiner Sichtweise Modelle oder Objekte wieder erstehen zu lassen, das macht für mich den Reiz der Malerei aus. Mein Kugelschreiber glitt über das Schreibpapier. Frau Hörzinger verriet mir, dass sie den VHS-Kurs Aquarell-Malen in ihrem Bezirk besucht hatte und dass die Ausstellung in der Konditorei Kastlinger ihre dritte sei. Lässt Ihnen ihr Beruf eigentlich ausreichend Zeit für die Malerei? Schön langsam hatte ich genug Material für den Vierspalter beisammen, dachte ich bei mir, leicht abwesend. Ich bin selbständige Versicherungsvertreterin, und kann mir meine Zeit einteilen. Und die Malerei gehört einfach zu meinem täglichen Leben dazu, es geht mir nicht gut, wenn ich nicht malen kann. Frau Hörzinger lächelte mich entwaffnend an. Mechanisch und etwas oberflächlich lächelte ich zurück, griff nach der Digitalkamera. Ich möchte jetzt noch schnell ein Foto von Ihnen machen. Könnten Sie bitte ein wenig zur Seite gehen, wegen des Lichts… Frau Hörzinger hob abwehrend die Hand. Oh, bitte kein Foto von mir. Aber… Ihr Blick wurde bittend. … könnte man nicht eines meiner Aquarelle fotografieren? Das würde sich sicher hübsch in der Zeitung machen. Warum nicht? dachte ich mir. Fünf Minuten später ließ ich die verschiedenen Bilder der Frau Hörzinger schon auf mich wirken. Ich war beeindruckt, ich gebe es zu. Mir gefiel, was die Hobby-Malerin da in ihrer Freizeit kreirte und ich schoss ein paar hübsche Aufnahmen. Jo, der in der Redaktion für die Fotos zuständig war, würde schon was Passendes heraussuchen. Da hatte ich keine Zweifel.
Ich packte die Digitalkamera wieder zusammen, wollte eben Frau Hörzinger die Hand reichen um mich zu verabschieden, als sie wieder diesen entwaffnenden Blick aufsetzte und mich fragte, ob sie mich auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen einladen dürfte. Im ersten Moment hatte ich schon eine abschlägige Floskel auf den Lippen, als sich meine innere Stimme meldete: Wozu hast du es eigentlich so eilig? Du hast alle Zeit der Welt! Das war sicher richtig. Wir nahmen also Platz, mir gegenüber hing ein Aquarell mit wunderschönen Mohnblumen, die ein eigenartiges Gefühl von Leben in mir weckten, von Sommer und von Wärme… Mir war schon auch klar, dass Frau Hörzinger nicht ohne Grund ihre Einladung an mich gerichtet hatte, und ich war neugierig, was sie mir zu berichten hatte.
Die Künstlerin hatte ihre Hände auf den Tisch gelegt und wieder fielen mir die Deformierungen daran auf. Das sah ja übel aus. Frau Hörzinger, war meinem Blick gefolgt. Ich habe Arthritis, seit über 15 Jahren. Dabei war es vor meiner Scheidung noch viel schlimmer. Sie verstand meine nicht ausgesprochene Frage. Es ist nicht immer leicht damit zu malen, an manchen Tagen habe ich solche Schmerzen, dass ich keine Pinsel in die Hand nehmen kann, manchmal bin ich kaum in der Lage meine Finger zu bewegen. Kaffee und Kuchen wurden serviert, aber ich mochte vorerst nichts anrühren. Wann ist die Krankheit ausgebrochen? Das kommt doch nicht von einem Tag auf den andern. Ehrlich gesagt war ich ein wenig betroffen. Das ist eine lange Geschichte und hat viel mit meiner Ehe zu tun, die sehr unglücklich war…
Frau Hörzinger schwieg ein paar Minuten. …ich war ja noch so jung, verstehen Sie, nicht einmal 20 Jahre alt. Und er, Gust, war mein erster Mann. Ich war ja so verliebt, wie man es halt in dem Alter sein kann. Und wir haben früh geheiratet. In den nächsten drei Jahren kamen unsere beiden Kinder, Tobias und Beatrix, zur Welt. Das war aber nicht das Problem. Schlimm war nämlich, dass Gust einen kleinen Bauernhof besaß, den ich bewirtschaften musste, während er in unserer Bezirkshauptmannschaft gearbeitet hat. Ich durfte schuften, sieben Tage in der Woche von früh morgens bis spät abends, während er nach der Arbeit oder am Wochenende die Wirtshäuser in der Gegend unsicher machte mit seinen Freunden. Selbst nach der Geburt unserer Kinder musste ich gleich wieder in den Stall. Ihre Augen waren auf einmal ganz hart in der Erinnerung. Meine Schwiegermutter hat mich nach wenigen Stunden aus dem Bett gejagt und mir nachgerufen, ich möge ja nicht glauben, ich könne hier faulenzen…
Diese Erzählung berührte mich emotional stark. Aber ihr Mann hat er nichts dagegen unternommen, dass sie von seiner Mutter so behandelt worden sind? Frau Hörzingers Augen blickten tief traurig. Was glauben Sie, warum er mich geheiratet hat? Es ging doch letztlich nur darum, die Mutter zu entlasten, seine Mutter, die in ihrer Ehe selber wie der letzte Dreck behandelt worden war, und für die ich der Prellbock für die eigenen erlittenen Demütigungen wurde. Sie faltete die Hände. Es war die Hölle, ich kann nur sagen, es war die Hölle. Und nach ein paar Jahren bekam ich schließlich Arthritis, die mir das Arbeiten zusätzlich erschwerte. Ich war etliche Male beim Arzt deswegen, ließ mich zu Spezialisten überweisen, nahm verschiedene Medikamente es brachte nichts. Die Frau sah mich ganz im Banne der schmerzhaften Erinnerungen an.
Einmal sagte mir eine Fachärztin, dass meine Beschwerden psychischer Natur wären. Ich erzählte ihr ein wenig von den katastrophalen Bedingungen, unter denen ich lebte… Sie hat mir zugehört, so wie Sie jetzt, und dann hat sie mir geraten, ich möge aus dieser Ehe ausbrechen: Sie gehen sonst zugrunde, Frau Hörzinger, hören Sie auf mich… Bei dieser Schilderung ging es mir kalt den Rücken hinunter. Ich vermeinte ein wenig von dem tiefen Leid zu spüren, dass diese Frau in über zwanzig Ehejahren ertragen hatte müssen. Frau Hörzingers Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es klingt eigenartig, aber danach hatte ich plötzlich wieder ein Ziel vor Augen. Ich arbeitete darauf hin, mich von meinem Mann zu lösen. Gust, das muss ich Ihnen noch sagen, war damals schon Alkoholiker, aber als pragmatisierter Beamter hatte er natürlich nichts zu fürchten. Er ging auch immer wieder fremd, hatte zwar kein Dauerfreundin, betrog mich aber mit Kellnerinnen oder Bardamen, Frauen halt, die sein Geld nahmen und ihn dann wieder vergaßen.
Frau Hörzinger hatte von ihrem Kuchen noch nichts gegessen. Sie rührte nur in ihrem Kaffee und schien mir ganz mit ihren Erinnerungen verwoben. Diese Seitensprünge taten mir längst nicht mehr weh, Gust war nicht mehr der Mann, den ich einmal geliebt habe oder zu lieben geglaubt habe. Der Alkohol hatte seine Persönlichkeit so stark verändert, und dass er außerdem zuließ, dass mich seine Mutter wie eine Sklavin hielt, tötete im Lauf der Zeit jede Liebe in mir ab… Als die Kinder groß genug waren, 16 und 15, verließ ich ihn, von einem Tag auf den anderen, aber gut vorbereitet. Um die Scheidung selber musste ich Jahre kämpfen, da Gust einfach nicht glauben konnte, ich würde nicht irgendwann doch wieder zu ihm zurückkehren. Selbst als er endlich einwilligte und wir geschieden wurden, wollte er noch immer nicht akzeptieren, dass unsere Ehe endgültig vorbei war. Ich erinnere mich, als ich nach der Scheidung an ihm vorbei gehen wollte, hielt er mich fest und zischte mir wütend zu: Ich wette mit dir, in einem Jahr bist du wieder bei mir du hältst es doch gar nicht ohne mich aus! !
Da hat er sich aber ordentlich geirrt! Ich atmete tief ein und aus und musste mir eingestehen, dass mich die Lebensgeschichte von Frau Hörzinger irgendwie gepackt hatte. Es war trotzdem nicht leicht, glauben Sie mir, ich besaß kein Geld, denn um die Scheidung zu beschleunigen hatte ich auf den mir zustehenden Anteil am Bauernhof, den ich Jahre umsonst bewirtschaftet habe, verzichtet. Die Malerin presste die Lippen fest aufeinander. Meine Schwiegermutter konnte sich allerdings nicht lange darüber freuen, denn sie erlitt einige Zeit darauf einen Schlaganfall und konnte sich danach nicht mehr bewegen… Ich habe kein Mitleid mit ihr. Ich verstand Frau Hörzinger gut, es gibt Leute denen man nie vergibt, nicht vergeben kann, weil das nur ein sinnloses Zugeständnis an Menschen ist, die keine Reue und kein Schuldgefühl kennen.
Dass sie nach der Trennung bis zur richtigen Scheidung ein paar Jahre in einer Bilderhandlung bis zu deren Schließung gearbeitet und ihr erstes eigenes Geld verdient hatte, war nur eine weitere Etappe zu ihrem zweiten Standbein als Malerin gewesen. Parallel dazu besuchte Frau Hörzinger nämlich schon den Malkurs an der VHS. Danach war sie bei jener Versicherung untergekommen, bei der sie auch heute noch das Geld zum Leben verdient. Es wäre so schön, schloss Frau Hörzinger mit einem Lächeln, wenn meine Malerei einmal so viel abwerfen würde, dass ich davon leben kann. Vielleicht verkaufe ich ja jetzt auch wieder das eine oder andere Bild. Und meine Arthritis hat sich in den letzen Jahren Gott sei Dank deutlich gebessert. Sie legte mir die Hand auf den Arm. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Aber gleich als ich kennen lernte, dachte ich mir, dass Sie ein hoch sensibler und feinfühlender Mensch sind Ihre Augen verraten das. Frau Hörzingers Lächeln ruhte warm auf mir, während mir durch den Kopf ging, wie oberflächlich und abwesend ich mich selber am Anfang unseres Gesprächs in Erinnerung hatte.
Aber darum ging es gar nicht. Ich hatte dieser Frau, die auf bewundernswerte Weise einen Neuanfang geschafft hatte, eine Stunde geschenkt, und davon hatten wir beiden profitiert. Zwar musste ich mich jetzt doch verabschieden, weil ich zurück in die Redaktion sollte um noch schnell die Unfallmeldungen zu schreiben, aber die Geschichte oder Beichte dieser Spätberufenen hatte noch eine andere Signalwirkung für mich: Es ist nie zu spät für einen Neuanfang, es ist immer die rechte Zeit zu sagen, ich löse mich von Altem, von Ballast und probiere etwas Neues aus. Grenzen zu überschreiten, die man sich selbst gesetzt hat, um Ziele zu erreichen, die einem andere nie zugetraut hätten das ist es, was den Reiz des Lebens ausmacht: Ich kann mein Leben formen und gestalten, wie ein Bild, eine Skulptur oder auch ein Kissen, das ich nähe und verziere. Und wie das Werk dann aussieht, hängt letztlich nicht nur von den Materialen ab, die ich benutze, sondern auch von meinen eigenen Ideen und vom Mut sie umzusetzen…
Vivienne
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