von Vivienne – November 2004
Ein Gefühl der Machtlosigkeit
Ich sperrte die Wohnungstür auf und zog meine Jacke aus. Hallo Liebes! tönte Alis Stimme fröhlich aus dem Wohnzimmer. ich habe die Post eben geholt! Patricks Karte ist endlich auch gekommen. Stell dir vor, fast eine Woche, nachdem er von seinem Urlaub aus den USA zurück ist. Unsere Post! schloss er nicht ohne Ironie. Ich ging wortlos zu meinem Freund, küsste ihn wortlos um zur Kaffeemaschine zu traben. Albert legte die Karte, die ich mir nicht einmal angesehen hatte, wieder beiseite. Hattest du Streit mit Vicky? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ganz sicher nicht.
Albert akzeptierte meine Einsilbigkeit nicht. Was ist dir dann über die Leber gelaufen? Patrick ist doch dein bester Freund! Und du siehst dir nicht einmal seine Karte an? Mechanisch trank ich ein Glas Wasser, ohne nachzudenken und um mich selbst zu beruhigen. Schließlich zündete ich mir eine Zigarette an und setzte mich neben Ali auf die Couch. Ich starrte gerade aus vor mich hin und reagierte erst, als Albert mit der Hand vor meinen Augen auf- und abging. Willst du nicht reden? Was ist los mit Vicky? Ich saugte mich an der Zigarette fest, als wollte ich mich halten. Mir fehlten die Worte, wie ich anfangen sollte. In mir tobte ein Chaos. Vicky war letzte Woche im Spital.
Aha. Albert musterte mich fragend. Und? Na ja. Irgendwie wusste ich nicht, was ich zuerst erzählen sollte. Die Gedanken schwirrten in meinem Kopf hin und her. Du weißt ja, dass Bert und sie seit mehr als einem dreiviertel Jahr ein Kind in Arbeit haben wie man so sagt. An sich hatte Vicky ja gehofft, zur Hochzeit schon schwanger zu sein. Und weil es nicht und nicht klappte, haben sie beide neulich einen Arzt aufgesucht. Bei Bert passt alles, aber bei Vicky eben nicht. Und darum musste sie ins Spital. Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen, weil ich wieder Vickys Gesicht vor mir hatte, mit den unendlich traurigen Augen. Albert riss mich aus den Gedanken.
Er nahm meine Hand. Spuck es aus, Mädchen! Ist es ein Tumor? Vielleicht Krebs? Ich blickte Ali völlig entgeistert ins Gesicht. Wovon sprichst du überhaupt? Natürlich nicht. Aber es gibt da eine Anomalie. Ich musste zweimal ansetzen, ehe ich es über meine Lippen brachte. Vicky kann keine Kinder bekommen. Nicht auf normale Art und Weise. Albert nickte mit leicht geöffnetem Mund. Schlimm. Okay, ich gebe zu, es ist schlimm. Aber die Leichenmiene die du gezeigt hast, ließ mich fast vermuten, sie hätte nur mehr kurze Zeit zu leben. Er stieß mich an. Es gibt doch heute schon so viele Möglichkeiten. Invitrofertilation oder so nennt sich das. Und was ich weiß, schießt das Land oder der Bund oder wer sonst zwei Drittel der Kosten zu. Natürlich ist es teuer, aber kein Schicksal
Ich kuschelte mich an Albert. Das funktioniert nicht. Sie könnte das Kind nicht austragen. Ooh. Albert schwieg betreten. Das heißt dann: keine eigenen Kinder. Oder Adoption. In seinem Gesicht konnte ich lesen, dass er genau wusste, wie lange die Listen mit Namen von Eltern sind, die auf diese Weise Kinder bekommen wollen. Endlos, auf jeden Fall viele Jahre Wartezeit vorprogrammiert. Und Vicky und Bert träumten jetzt von einem Kind Vicky ist jedenfalls total deprimiert. Nicht einmal, dass sie so sehr weint. Aber sie wirkt völlig zerstört. Als ob ihre Lebensfreude weg wäre. Von einem Kind hat sie schon geschwärmt, als sie Bert noch lange nicht kannte. Und nun erfährt sie, dass sie jahrelang die Pille völlig umsonst in Kauf genommen hat. Sie hätte nie schwanger werden können
Albert streichelte meine Wange. Ich dachte darüber nach, dass ich ihr aus einem merkwürdigen Schuldbewusstsein heraus anbieten wollte, für sie ein Kind auszutragen. Vicky hätte beinahe gelacht, fast amüsiert, hatte sie mir die Zigarette weggenommen. Ja, ganz sicher. Und dein Albert hat natürlich nichts dagegen, zu rauchen hörst du auch auf und Kaffee zum Frühstück kommt nicht mehr in Frage. Fällt dir ganz leicht, ich weiß es. Sie wirkte fröhlicher als noch fünf Minuten zuvor, aber die Resignation, die in ihrer Stimme mitschwang, tat weh. Du kannst sagen, was du willst, aber es sieht nicht gut aus für einen Bert Junior. Albert riss mich aus meinen Gedanken. Ich weiß ja, dass ihr euch schon lange kennt und dass das weh tut, aber denk mal drüber nach, wie schlimm das sein würde, wenn sie wirklich schwer krank wäre. Ich weiß, ich weiß ließ er meinen Widerspruch erst gar nicht aufkommen. aber kommt Zeit, kommt Rat, verstehst du? Oft anders als man meint.
Albert blickte mich mit glänzenden Augen an. Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich würde dich nicht wieder sehen Und doch hatte ich mich geirrt. Vicky ist stark und jung, vielleicht tut sich in dem Bereich der Medizin etwas. Oder sie finden tatsächlich eine Leihmutter oder was weiß ich Mein Freund drückte mich zärtlich an sich. Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern. Aber nichts muss man genau so hinnehmen, wie es ist. Man hat seine Möglichkeiten auf Umwegen über ein Hindernis hinwegzukommen. Nur aufgeben sollte man nicht gleich und den richtigen Zeitpunkt abwarten, unverkrampft. Ich schüttelte den Kopf. Albert wollte mich aus meinem Tief reißen, und das war eine süße Geste von ihm. Aber selbst der größte Optimist hätte in Vickys Fall keine Chance gesehen Und ich fühlte mich so hilflos.