von Vivienne – Mai 2004
Ich hab mich so an dich gewöhnt
Rita ging schnell die Stufen hinunter.
Sie trug in der Hand einen Karton.
Bis zum Rand gefüllt mit zerbrechlichen Sachen.
Gewickelt in dünnes Seidenpapier.
Vorsicht zerbrechlich!
Mit großen Blockbuchstaben standen die Worte auf dem Karton.
Selbst geschrieben.
Rita lief durch die offene Tür.
Setzte den Karton im Kofferraum ihres Autos ab.
Dann ging sie wieder zurück ins Haus.
Langsam.
Bedächtig.
Setzte Schritt für Schritt.
Kurz vor der Tür sah sie sich um.
Ein schmuckes Einfamilienhaus.
Mit Pelargonien am Fenster.
Und einem Kirschenbaum hinter dem Haus.
Rita seufzte.
Im Badezimmer war es fast leer.
Nur der große Spiegel hing noch an der Wand.
Rita nahm ihre Brille ab.
Blickte in den Spiegel.
Das Gesicht eines jungen Mädchens lachte zurück.
Lachgrübchen in den Wangen.
Leuchtende Augen.
In einer schillernden Farbe zwischen Blau, Grün und Braun.
Und dunkle Locken.
Die weit über die Schulter herunterfielen.
Rita seufzte wieder.
Setzte die Brille auf.
Das Mädchen im Spiegel war einer reifen Frau gewichen.
Ende Vierzig.
Mit grauen Strähnen im dunklen Haar.
Und Falten.
Falten, die ein Leben erzählten.
Ihre Augen blickten traurig.
Wehmütig.
Dann riss sie sich los.
Nahm den Spiegel ab.
Wickelte ihn in Papier.
Und lief wieder zum Auto.
Als würde sie jemand hetzen.
Rita blickte auf die Uhr.
Wann wollte Uwe kommen?
Uwe wollte die sperrigen Teile der alten Kommode einladen.
Die sie nicht im Haus lassen wollte.
Sie ging wieder zurück ins Haus.
Jeder Schritt tat ihr weh.
Nicht körperlich.
Sondern in der Seele.
Sie blieb im Flur stehen.
Der braune Läufer lag noch dort.
Etwas zerschlissen.
Mein Gott.
Musste fast fünfzehn Jahre her sein.
Dass sie ihn mit Egon ausgesucht hatte.
Frisch verheiratet.
Hatten sie ihn in einem Second-hand-Shop erspäht.
Rita war sofort gegeistert gewesen.
Egon hatte nicht viel gesagt.
Eine halbe Stunde später lag er im Kofferraum.
Gerollt.
Ritas Augen lachten in der Erinnerung.
Einen Moment sah sie wieder unbeschreiblich jung aus.
Dann würgte ein Schluchzen in ihrer Kehle.
Ihre Augen standen in Tränen.
Draußen hupte ein Auto.
Rita zwinkerte.
Tupfte die Perlen weg.
Dann ging sie rasch nach draußen.
Uwes Opel hielt.
Er stieg aus.
Ging auf seine Schwester zu.
Na, wie gehts?
Sein Blick war warm.
Aber auch ein wenig oberflächlich.
Wo steht das gute Stück?
Er folgte Rita ins Schlafzimmer.
Die Kommode war zerlegt.
Die Teile standen in der Ecke.
Die Stimmen der beiden klangen seltsam hallend.
Im leeren Raum.
Rita konnte nicht auf die Teile sehen.
Sie spürte wieder Tränen.
Und das Würgen im Hals.
Uwe sah sie an.
Legte die Hand auf ihre Schulter.
Schau, Mädel.
Lass dir Zeit.
Es wird wieder.
Niemand konnte ahnen, dass Egon so schwer krank ist.
Du wirst dich in deiner Wohnung schon eingewöhnen.
Hier im Haus hättest du nur trübe Gedanken.
Rita blickte auf.
Die Tränen kollerten über ihre Wangen.
Uwe nahm sie kurz in den Arm.
Streichelt sie.
Sanft.
Aber ein wenig oberflächlich.
Dann machte er sich an die Arbeit.
Rita sah ihm dann zu.
Wie er die Teile nach draußen trug.
Dann glitt ihr Blick noch einmal die Wände entlang.
Sie drehte sich dabei fast um ihre eigene Achse.
Für ein paar Augenblicke war der Raum lebendig.
Die Bilder hingen dort.
Das Bett stand da.
Und drüben.
Wirklich.
Egon saß auf der Bettkante und lachte sie an.
Egon.
Mit seinem unwiderstehlichen Blick.
Und den leuchtenden blauen Augen
Draußen hupte das Auto.
Zweimal.
Dreimal.
Rita riss sich aus dem Tagtraum.
Schluckte noch einmal das Würgen im Hals hinunter.
Dann lief sie nach draußen.
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