Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Oktober 2004



Verpasste Gelegenheit

How Am I supposed to live without you?
Now that I’ve been loving you so long…
Michael Bolton

Walter stand am Balkon seiner Wohnung.
Kalt und regnerisch hing der Nebel in der Luft.
Walter trank einen Schluck seines Kaffees, der leicht dampfte.
Er wusste im Grunde nicht, warum er da stand.
Über fünf Minuten schon.
Und der Nieselregen wurde immer stärker.
Seine Haare waren feucht.
Walter schüttelte sich.
Er fror.
Dann ging er langsam zurück in sein Wohnzimmer.
Das Fernsehgerät lief noch.
Irgendeine öde Gerichtssaalgeschichte.
Barbara Salesch?
Es war ihm egal.
Mit nassen Haaren setzte er sich wieder in seinen Fernsehsessel.
Und schaltete um.
Werbung.

Zippte durch.
Im Grunde interessierte ihn gar nichts.
Er wusste nicht, warum er nicht überhaupt gleich das TV-Gerät abschaltete.
Unbewusst klammerte er sich an die bunten Bilder.
Und die laute, schrille Musik.
Nur nicht denken!
Er verkrampfte innerlich.
Und doch war Lydia ganz groß in seinem Kopf.
Seine Kollegin Lydia.
Lydia, die er liebte.
Er kannte jede Linie ihres Gesichtes.
Den dunklen Haarschopf, in dem bisweilen schon ein wenig Grau schimmerte.
Lydia.
Der Grund, warum er sich freute, wenn er in den öden Arbeitsalltag ging.
Und wenn er sich angestrengt erinnerte, spürte er sogar ihr Parfüm in der Nase.
Ein leichter, blumiger Duft.
Der ihn zum Träumen brachte…

Er hatte es nicht glauben können, als sie es ihm sagten.
Nein, das konnte nicht wahr sein.
Er hatte sich umgedreht.
War zu seinem Schreibtisch gegangen.
Gleich neben dem von Lydia.
Und hatte sie fast körperlich gespürt.
Sie musste ja gleich kommen.
Ganz sicher.
Auf dem Schreibtisch noch eine Vase mit Rosen.
Zum Firmenjubiläum letzte Woche.
Lydia war ja schon viel länger in der Firma als er.
Sehr viel länger…
Schweiß auf der Stirn.
Unruhe.
Walter zündete sich eine Zigarette an.
Um sich zu beruhigen.
Seine Finger vibrierten wie die Fühler eines Insekts.
Im Rauch schien sich ein Gesicht zu formen.
Lydia.

Lydia neben ihm, die ihm geduldig das neue Programm erklärte.
Schau, Walter.
Im Grunde gar nicht so viel anders.
Ihr langes Haar berührte seine Stirne.
Und ihre Hand lag auf seiner Schulter.
Und dieses leichte Parfüm…
Später waren sie beisammen gesessen.
Hatten gelacht.
Und den unvermeidlichen Kaffe getrunken.
Schwarz wie die Nacht und süß wie die Liebe…
Lydia hatte immer viel gelacht.
Obwohl ihr Leben gar nicht so glücklich war.
Ihr Mann war schwer krank.
Krebs.
Aussichtslos.
Aber für einige Zeit konnte man sein Leben verlängern.
Diese Krankheit machte es beiden nicht leicht.
Und irgendwann war Lydia innerlich abgestumpft.
Sie hatte es ihm verraten.
Dass sie ihn einfach nicht mehr lieben konnte.
Ihren Mann, mit dem sie immerhin fast fünfzehn Jahre schon beisammen war.

Walter träumte.
Mit der Zigarette in der Hand sah er Lydia vor sich.
Wie sie ihn mit leuchtenden Augen ansah.
Als spiegelte sich das ganze Leben in diesen dunklen Augen.
Nein.
Walter wollte nicht von Liebe sprechen.
Noch nicht.
Nicht bevor das mit ihrem Mann ausgestanden war.
Sie würde ihn nicht verlassen.
Nicht wo er noch todkrank an ihrer Seite stand.
Aber wenn sie frei war, dann würde er keine Sekunde mehr zögern…
Seine Gefühle zu offenbaren.
Wusste sie nicht ohnehin Bescheid?
Längst?
Wussten es nicht auch die Kollegen?
Ohne je ein Wort darüber zu verlieren?
Walter spürte ein Würgen im Hals.
Tränen.
Er hustete.
Dämpfte hastig die Zigarette aus.
Flüchtete auf das WC.

Walter starrte auf das Fernsehgerät.
Nachrichten.
Der Sprecher berichtete von einem schweren Unfall auf der A8.
Mit drei Toten.
Walter schaltete das Gerät ab.
Blickte hilflos um sich.
Er spürte wieder Lydia…
Und erneut hörte er die Wortfetzen der verheulten Kollegin.
…sie war in der Nacht unterwegs zum Notarzt.
Ihrem Mann ging es gar nicht gut.
Und dann der Betrunkene im anderen Auto.
Sie konnte nicht mehr bremsen.
Totalschaden.
Lydia starb ein paar Stunden später.
An ihren schweren Verletzungen.
Gott, es ist so furchtbar…
Was für ein Ausdruck.
Es ist so furchtbar.
Was es das für sie, die Kollegin?
Nein.
Aber für ihn.
Ihn, der ihr, Lydia, nie seine Gefühle gestanden hatte.
Der sie geliebt hatte.
So geliebt…
Walter ballte die Fäuste.
Sein Blick verlor sich im Dunkelblau des Bildes an der anderen Wand.

..if I never did it,
I was only waiting
for a better moment,
that didn’t come.
Paul McCartney.

Jeder Augenblick ist der beste um zu sagen: Ich liebe dich….

Vivienne

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