5. Kapitel: Erwartung

Vanessa hatte schnell alles erledigt, was für den nächsten Tag vorzubereiten war, und hatte sich mit ihrer Handtasche auf die Damentoilette im ersten Stock verzogen. Im ersten Stock arbeiteten außer den fast ausschließlich männlichen IT-Leuten nur ein paar Halbtagskräfte, so dass es unwahrscheinlich war, dass um diese Uhrzeit noch jemand hier rein kam.

Sie wühlte in ihrer Handtasche nach den Deo-Tüchlein, die sie für alle Fälle dabei hatte. In der winzigen Packung waren ursprünglich fünf Tüchlein gewesen, zwei hatte sie aber letztens verbraucht, als der Chef sie als Protokollantin mit in die Sitzung genommen hatte, weil seine Sekretärin krank gewesen war. Sie hatte sich so aufgeregt, dass sie schrecklich zu schwitzen begonnen hatte und sich kurz vor der Sitzung noch mal hatte frisch machen müssen. Anscheinend hatte sie danach die Packung nicht mehr richtig verschlossen, die übrigen drei Tücher waren ausgetrocknet. Leise fluchend befeuchtete sie die Tücher unter dem Wasserhahn, wrang sie kurz aus, öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse und begann hektisch unter ihren Achseln und in der Falte zwischen ihren Brüsten zu wischen. Die Läppchen waren noch viel zu nass und hinterließen feuchte Spuren auf ihrer weißen Bluse.

Vanessa seufzte verzweifelt. Sie riss Papiertücher aus dem Spender und begann ihre Haut trocken zu tupfen. Die Papiertücher waren sehr rau, ihre Haut wurde vom Reiben rot. Als sie sich abgetrocknet hatte, betätigte sie das Luftgebläse und dehnte sich in seltsamen Verrenkungen darunter, um die nassen Flecke auf ihrer Bluse zu trocknen.

Als die Bluse getrocknet war, packte sie alle Schminkutensilien aus, die sie in ihrer Handtasche fand: eine Puderdose, ein Kajal, ein dunkelroter Lippenstift. Eigentlich hätte sie sich am liebsten ganz abgeschminkt, weil ihre Haut trocken und ein wenig fleckig wirkte. Aber dazu hatte sie keine Zeit und sie hatte auch nichts dabei, was sie gebraucht hätte, um das Make-up aufzufrischen.

Also säuberte sie nur die verschmierten Stellen, puderte ihre Haut und frischte den Kajal auf. Während sie die vertrauten Schminkbewegungen vor dem Spiegel durchging, beruhigte sie sich langsam. Sie wusste nicht, wie die Einladung gemeint war. Vielleicht wollte er einfach nur Gesellschaft beim Abendessen, aber warum ging er dann nicht nach Hause?

Ab und an hatte er mal eine Bemerkung gemacht: Familienglück ist relativ zum Beispiel. Einmal hatte seine Frau hysterisch angerufen, als ihr Sohn Fieber hatte, und sie hatte sie schnellstmöglich durchstellen müssen. Er war bald darauf gestresst nach Hause gegangen.

Lehrerinnen sind sowieso ein besonderer Schlag, dachte Vanessa, und wenn sie dann immer nur beim Kind ist, das ist wahrscheinlich auch schwierig für ihn. Manchmal kann er einem richtig leid tun. So ein verantwortungsvoller Posten, da muss man jemanden zu Hause haben, der voll und ganz hinter einem steht.

Dabei sorgt er so gut für die Familie. Vielleicht braucht er aber auch mal jemanden, der sich um ihn kümmert. Deshalb tut es ihm ja auch so gut, wenn man ihm einen Kaffee bringt und fragt, ob er sonst noch was braucht. Jeder braucht ja Zuneigung und Achtung. Sonst kann eine Beziehung nicht laufen.

Vanessa zog sich die Lippen nach. Nach der ersten Schicht nahm sie ein Papiertuch, drückte die Lippen darauf und trug eine weitere Schicht auf. Mit der Fingerspitze fuhr sie an der Innenseite der Lippen entlang, damit sich keine Lippenstiftreste auf ihre Zähne übertrugen. Sie überprüfte ihr Spiegelbild, ordnete sich noch einmal mit den Fingern die Haare. Sie bedauerte, dass sie kein Haarspray dabei hatte, denn ihre Haare lagen platt an ihrem Kopf. Also befeuchtete sie unter dem Wasserhahn die Hände, fuhr sich erneut durch die Haare und föhnte sie überkopf unter dem Luftgebläse trocken.

Vanessa fühlte sich unsicher. Ihr war bewusst, dass ihre Kleidung zwar klassisch, aber billig war. Jeder würde das erkennen, wenn sie neben Thomas in seinem teuren Anzug stünde. Er sah ja auch so gut aus, so sportlich, und er bewegte sich so toll. Man sah ihm richtig an, dass er jede Frau haben konnte, die er wollte.

Und sie war eben auch nur eine kleine Tippse. Auch wenn er sie nie so behandelte. Er bedankte sich immer, wenn sie ihm die Dienstreisen organisierte. Und sie suchte ihm immer die angenehmsten Flüge und die schönsten Hotels aus.

Vor einigen Monaten hatten sie sich einmal unterhalten und sie hatte ihm erzählt, wo sie aufgewachsen war. Nicht die beste Gegend. Dass sie eine Schwester und vier Halbgeschwister hatte. Noch im selben Moment hatte es ihr leid getan, dass sie so etwas erwähnt hatte, aber Thomas hatte sie nicht komisch angeschaut. Eher respektvoll, als wollte er sagen: Da hat sie sich toll hochgearbeitet.

Und auch er hatte sich ihr damals geöffnet. Hatte ihr von seinem Vater erzählt, der Chemie-Professor war und der immer noch enttäuscht über seinen Sohn war, der nur Ingenieur geworden war, statt wie er selbst und seine anderen Kinder in die Wissenschaft zu gehen. Dass Thomas ganz froh war, jetzt so weit von seiner Familie entfernt zu wohnen.

Vanessa schaute auf die Uhr. In fünf Minuten wollte er sie an ihrem Schreibtisch abholen. Sie ging zurück zu ihrem Tisch und begann Unterlagen zu sortieren. Es wäre unauffälliger, am Computer zu arbeiten, aber sie war zu nervös, um ihn noch einmal hochzufahren. Also legte sie dieselben Aktenstapel immer hin und her.

Fünfzehn Minuten später holte Thomas sie mit einem breiten Lächeln ab: Wie wäre es mit dem Sevilla, das ist eine nette Tapas-Bar, passt das?

Vanessa hatte keine genaue Vorstellung von einer Tapas-Bar, aber sie nickte begeistert.

Wie machen wir es mit dem Fahren?, fragte Thomas. Ich würde vorschlagen, ich fahre Ihnen hinterher bis zu Ihnen nach Hause, Sie parken Ihr Auto, steigen bei mir ein und nach dem Essen fahre ich Sie dann nach Hause. Passt das?

Und Vanessa nickte erneut, stotterte ein Natürlich heraus und sie gingen zusammen in die Parkgarage.

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