Was ist das größere Unrecht?

Die Fakten:
Ein kleines Mädchen.
Als Kind entführt.
Opfer eines verschrobenen Sonderlings.
Groß gezogen von ihm.
Unterrichtet.
Vermutlich auch missbraucht.
Isolation.
Schwere Schäden an der Seele.
Vielleicht nur langsam zu heilen.
Oder zumindest zu mildern.
Nach acht Jahren gelingt die Flucht.
Nach acht Jahren Rückkehr in eine normale Welt.
Wiedersehen mit den Eltern.
Tränen trocknen.
Leid tritt in den Hintergrund.
Durch diesen Moment der Befreiung.

Die Kehrseite.
Rauschen im Blätterwald.
Nein.
Es ist schon mehr eine Überschwemmung.
Eine Sturmflut in das Leben der jungen Frau.
Die Hatz beginnt.
Nach jedem Detail aus dem Leben des Mädchens.
Papparatzi scheinen harmlos dagegen.
Fast noch bieder und brav.
Die Flucht des Mädchens –
War sie wirklich eine Rückkehr ins normale Leben?
Vermeintlich normal.
Der Krieg der Medien tobt.
Die ersten Fotos.
Das erste Exklusivinterview.
Dafür würde viel bezahlt werden.
Sehr viel.
Eine neue Tageszeitung kommt heraus.
Nicht von irgendwem.
Man fürchtet um Anteile am Werbekuchen.
Und deshalb wuchert der Kampf um die Fakten aus.
Wie ein bösartiger Tumor.
Der alles zerstören kann.
Vor allem das neue Leben der jungen Frau…

Das Recht auf Information!
Welch kranke Rechtfertigung!
Man muss nicht alles wissen!
Es geht nur um Geld.
Es geht um die Leser.
Es geht um Auflagen.
Das Leben des Mädchens ist manchen völlig egal.
Pseudojournalisten.
Die bisweilen auch Gesetze brechen würden.
Um ans Ziel zu gelangen.
Was bedeutet da im Vergleich schon das Mädchen selber?
Seine schwer verletzte Seele?
Die wohl ein Leben am Missbrauch kranken wird?
Sein Recht auf ein normales Leben?
Auf Ruhe und Fairness?
Und vor allem auf Menschlichkeit?
Manchen Medienleuten scheint das vernachlässigbar.
Hauptsache die Schlagzeilen sind dicker als bei der Konkurrenz.
Hauptsache, man hat einen Informanten aus dem Umkreis des Mädchens.
Der das eine oder andere Detail verrät.
Hauptsache in der Chefredaktion herrscht gute Stimmung.
Weil man die Konkurrenz abhängen konnte.

Das Mädchen selber?
Egal!
Wir haben ein Recht auf Information.
Und auf hohe Auflagen.
Vielleicht sagen sie auch.
Das Mädel hat halt Pech.
Wir können darauf nicht Rücksicht nehmen.
Was weiß die Kleine schon vom Konkurrenzdruck?

Krankes Gebaren.
Widerliche Geilheit auf Neuigkeiten.
Abstoßend und verachtungswürdig.
Das Mädchen hat sich viel mitgemacht.
Die Folgen sind nicht absehbar.
Aber das Mädchen scheint mir vom Regen in die Traufe gekommen zu sein.
Oder noch schlimmer.
In den letzten acht Jahren hatte es nur einen Peiniger.
Nun hat es viele.
Die Medien jagen die junge Frau wie einen Freak.
Wie ein fünfbeiniges Kalb.
Die Antwort auf die Gebete mancher.
Die die Sensation des Jahres suchten.
Einen Aufhänger, der die Auflagen steigert.
Ins Unermessliche.
Menschlichkeit und Pietät sind da nicht gefragt.
Oder völlig nebensächlich.
Es lebe der Profit!

Es heißt:
Das Mädchen hat eine starke Persönlichkeit.
Klug und stark ist es geworden.
Es wird das alles brauchen um diesen Medienwirbel zu überstehen.
Heil zu überstehen.
Ein noch größeres Unrecht vielleicht.
Als das, das ihm sein Entführer angetan hat…

© Vivienne

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