Befrieden – Toni A. Rieger

Und der Herr sprach: „Es werde Licht.“ An Frieden dachte er wohl nicht.
Ich würde diesen blöden Spruch, an die Wand gekritzelt, mein Leben lang nicht aus dem Kopf bekommen. Mein Problem? Schwach im Vergessen. Was hieß schon Leben? „Guten Morgen, Herr Leutnant, heute schon abgeführt?“
Ilse, hochgewachsen, im Heer der um meine Körperlichkeit Bemühten, war, ohne dass ich ihr Kommen wahrgenommen hatte, an mein Bett getreten.
Leutnant, was war das schon?

Natürlich war Oberfähnrich Hermann Bolz stolz, die Uniform mit goldener Paspelierung gegen die mit der Silberkordel getauscht zu haben. Keine Frage, Beförderung macht Soldat glücklich.
Durch einen Steckschuss in der Lunge zum Offizier werden? Dazu noch einen Durchschuss in der Leiste? Blutverlust vom Feinsten! Wenn es Bolz erwischt, dann aber richtig!
Wie genau eigentlich?

Der Treffer saß! Das Gefährt rumpelte noch weiter.
Wir, Gruppe drei der „Scheißhausfliegen“ unter Oberleutnant Müller, genannt „Narbenfresse“, hatten es nicht anders
erwartet. Die Kompanie war mit acht Schützenpanzern auf dem Weg zur Kathedrale, wie der Kompaniebefehlsstand hieß.

„Verluste? Los, Meldung!“

Harry, unser Neuzugang, hatte eine blutige Schramme auf der Stirn.
Ich gab ihm ein Zeichen.
Halt bloß den Schnabel, mit dem Narbengesicht ist nicht gut Kirschen essen!
Von vorne kam: „Alles klar, Herr Oberleutnant. Keine Ausfälle zu melden.“

Der Feldwebel im Fahrerhaus hatte ein leichtes Zittern in der Stimme. Gut, dass er den Deckel, also die Luke über dem
Fahrersitz, geschlossen hatte und über Winkelspiegel nach draußen sah. Dem Feind wurde somit ein direkter Angriff
auf unseren wichtigsten Mann, den Fahrer, verwehrt.

Müller sah grimmig von einem zum anderen. Den Harten raushängen zu lassen, gehörte wohl bei dieser Gattung Soldat unbedingt zur Grundausstattung.
„Bolz, los, raus mit Ihren Mannen, Meldung Lage, und zwar flott!“
Musste sein, wir konnten den Feind nicht gewäh-
ren lassen. Müllers Befehl entsprach haargenau meiner Einschätzung.
Einen Trupp abfangen, ihn mit Mörsern, also leichter Artillerie, beharken, den Führungspanzer knacken und dann
den Letzten in der Kolonne aufbringen? So wurde es gelehrt.
Und das bei Nacht und Neumond in einem miesen Kaff?
Wer, verflucht, war da am Drücker?

„Schwester, nein, glaube nicht. Was, bitte, ist mit den Jungs? Sagen Sie, hat wer überlebt?“

„Na, dann wollen wir mal. Schauen Sie ruhig zur Wand. Ich befreie Sie von dem Übel.“

Wieder keine Antwort auf meine Frage. Anstatt mir die Wahrheit zu sagen, drucksten alle nur rum. Und von einem solchen Sahneschnittchen, wie Ilse eines war, den Einlauf verpasst zu bekommen und nur diese Scheißwand mit Wichssprüchen anzuglotzen, war das noch lebenswert?

„Meldung, Zug Wolfsrudel etwa fünfzehn Minuten südlich der Kathedrale unter Beschuss. Kettenverlust. Näheres später. Wolfsrudel sitzt ab. Ende!“

Aus dem Funkgerät kam nur Geknatter. Müller fluchte.
Das war übliches Verfahren. Kommunikation war das Wichtigste. Position möglichst genau erfassen, Lage einschätzen.
Die Hydraulik arbeitete noch, das „Tor zur Hölle“, unsere Ausstiegsklappe am Ende des Fahrzeugs, öffnete sich langsam. Ruhe bewahren. Da ein Geschoss in den Antrieb gekracht war und uns die Kette zerborsten hatte, konnten wir davon ausgehen, dass der Feind den Standort gewechselt hatte. Schon Clausewitz hatte es gewusst. Nach dem Schuss die Deckung wechseln. Kannte der Feind Clausewitz?

Die Kameraden in der Nachhut, wie mochte es denen gehen?

„Sie geben mir keine Antwort, Schwester. Was ist los?“

Ohne ein Wort war Ilse wieder verschwunden. Mich mit meinen Qualen und den unbeantworteten Fragen hier allein zu lassen, war das menschlich?

„Scheißhausfliegen“, der Titel musste erst verdient werden, und wir hatten ihn! Nach dem Überfall des Feindes war es uns gelungen. Der war in unser Ländchen eingedrungen.
Nach Zerstörung der Telekommunikation und Bombardierung der Luftabwehr war es auf die Funker angekommen.
Unser Fernmeldebataillon hatte zu funktionieren. Und wir hatten funktioniert! Die Generalmobilmachung war noch am selben Tag durch das hastig gezimmerte Netz von Relaisstationen möglich geworden.

Ich hatte Hausarbeiten der Schüler korrigiert, am Abend eine Dokumentation über unseren bislang friedlich wirkenden großen Nachbarn und dessen Präsidenten geschaut und mir dabei ein Gläslein Merlot gegönnt. Doch der Morgen sah mich bereits in der Rekrutierungsschlange des Verteidigungsministeriums. Als Fähnrich der Reserve wurde ich stante pede zum Oberfähnrich der Funker.

Aus dem Berufschullehrer mit Militärerfahrung wurde ein Oberfähnrich mit Offiziersanwärterschaft. Das Land hatte einen Kämpfer für die gerechte Sache.

Nicht erst Ilse brachte einen zu der Überzeugung, dass da etwas wäre, das Landesverteidigung zu begründen hatte.
Verkabelt, ein Katheter in die Blase gestopft, eine Pissflasche zwischen den Beinen, blutige Transparentschläuche seitlich heraushängend, all das ging mir auf die Nerven? Das nicht, eher dass sie, wie auch ich, keine Antworten hatte? Nein, die Situation war beschissen.

„Leutnant, es kommt Besuch!“
Wir raus, kaum dass die Heckklappe offen war! Mit dumpfem Schmatzen schloss sie sich wieder. Narbengesicht war der Letzte der Soldaten, die das schützende Gefährt verlassen hatten. Wie auf Kommando ein urgewaltiger Knall, von den Häuserwänden wie in der Echokammer reflektiert. Maschinengewehrfeuer von vorn. Stechen in der Brust. Taumelnd erreichte ich den Boden. Deckung, rühr dich nicht! Gleich ist alles vorbei. Das Atmen, verdammt schwer. Wie ging Frieden noch mal?

„Ruhig Junge. Wir bringen dich hier raus!“
„Müller?“
Mein Blick fiel auf das Wrack des Schützenpanzers. Was davon noch stand, war nicht viel.

Narbenfresse dicht an meinem Gesicht, irgendwie an meiner Hose zu Gange. Was machte der verdammte Kerl da eigentlich?
„Der Feldwebel ist noch raus. Gut, dass das Tor zur Hölle wieder zu war. Der Mörser hat drinnen die Munition für die
Automatikknarre erwischt. Wir alle sind wohlauf. Nur den verdammten Oberfähnrich Bolz hat das Ganze fast in den Himmel geboxt. Und ich will verflucht sein, wenn ich mit dem Kerl nicht bald seine Beförderung feiern kann.“

Was nuschelte er? Konnte er mich nicht in Ruhe sterben lassen? Ich wollte Frieden!
Das Rattern hörte auf. Schmerz hatte eingesetzt. Die Druckwelle war es wohl gewesen, die mich erwischt hatte. Eine Garbe aus ’nem MG? Und dann Müller?
Das Kommende erst sollte die Hölle gewesen sein.

„Herr Leutnant, Ihr Besuch!“
Verdammt, ich will keinen Besuch. Lasst mich endlich in Frieden!
*
Begeistert sehen die Gesichter nicht aus. Irgendwie starr.
Kann das eine Feier sein? Blumen, wo sind Blumen? Gehören nicht zu solchen Anlässen Blumen? Und wer wird hier beerdigt? Nein, nicht Gesichter, Masken sind das. Masken … da war doch mal diese Pandemie. Und was soll das jetzt?

„He, Leutnant, wohlauf? Ich hab’s versprochen. Nun wird es Zeit zu feiern!“
Narbengesicht im Rollstuhl? Hat keine Beine mehr?

„He, Leutnant, hast uns Sorgen gemacht. Ich hab doch immer gesagt, lass dir in die Beine schießen. Die sind schnell ab. Kriegste was in die Brust, heilt es ewig nicht. Und du Blödmann lässt dir auch noch den Sack wegknallen.“

Müller, lass mich in Ruhe. Merkst du nicht, dass du störst?
Schick mir lieber Ilse. Ich möchte ihre Hände halten und in Frieden sterben.

Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.
(Erich Maria Remarque)

Aus „Leise Worte des Friedens“ Anthologie „edition winterworks“

Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. Das hat Europa im Februar 2022 erneut erfahren müssen. Plötzlich war der Krieg nicht mehr weit entfernt, sondern allgegenwärtig.

In dieser Anthologie setzen Autor*innen ein Zeichen für den Frieden und gegen Krieg.

In diesem Buch wird der Wunsch nach Frieden in Worte gehüllt.

Für jedes verkaufte Buch spendet edition winterworks 2,00 EURO an eine gemeinnützige Organisation.

ISBN 978-3-96014-952-1 Preis 14,90 EURO – www.edition-winterwork.de

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