12. Kapitel: Schuld

Thomas saß auf der Couch und hielt Stefan im Arm, der seit gestern so verschüchtert war, dass er den Saft nur aus dem Fläschchen nuckeln wollte, obwohl er schon gut aus dem Becher trinken konnte. Er hatte sich jetzt in den Arm seines Vaters gekuschelt und nuckelte vor sich hin. Alleine durfte man ihn im Moment nicht lassen, er brauchte immer jemanden zum Festhalten. Thomas fühlte sich als Vater so sehr in der Pflicht wie nie zuvor. Constanze war sonst immer da gewesen, sie war nie ausgefallen.

Sie war noch im Krankenhaus. Maria hatte Constanze heute Morgen noch ein paar Sachen ins Krankenhaus gebracht. Heute Nachmittag würde sie Stefan nehmen, so dass Thomas ins Krankenhaus fahren konnte. Thomas überlegte, was er Constanze mitbringen sollte. Blumen? War das geschmacklos? Pralinen? Sie machte sich nicht besonders viel aus Schokolade. Vielleicht eine einzelne rote Rose und eine Flasche Saft.

Thomas hatte Angst. Konnte man Schuld von außen sehen, vielleicht schon von weitem? Als er heute Nacht um drei Uhr zu Hause aus dem Auto gestiegen war, hatte er in der Garage auf einmal wahr genommen, dass er penetrant nach Zitrone roch, unterlegt mit einem dumpfen Geruch von Fastfood. Mit einer harmlosen Geschichte erklärbar, dennoch seltsam.

Als er in die Wohnung gekommen war, hatte er Rebekka und seine Schwiegermutter dort vorgefunden. Rebekka hatte ihn seltsam angeschaut. Seine Schwiegermutter hatte auf den Ketchupfleck auf seinem Hemd gestarrt. Dann hatte sie gesagt: Wir haben hier die Stellung gehalten. Stefan schläft zum Glück. Setz dich. Mach leise, sonst wacht er wieder auf.

Constanze sei im Krankenhaus, man hätte ihn seit halb zwölf zu erreichen versucht. Das Kind habe sie verloren. Sie, Maria, sei sofort gekommen, als Constanze angerufen habe. Und dann habe sie den Kleinen anziehen und mit ins Krankenhaus nehmen müssen, weil er nicht erreichbar gewesen sei und Rebekka noch bei der Arbeit war. Und Maria habe den Namen der Kneipe vergessen, wo sie kellnert. Es sei ja sonst niemand da gewesen, der nach dem Kleinen hätte schauen können. Deshalb musste er mitten in der Nacht mit in ins Krankenhaus. Bei dem letzten Satz hatte Maria ihn böse angeschaut.

Er hatte sich bei Maria rausreden können. Langes, langweiliges Geschäftsessen. Einfach keinen Absprung gefunden.

Wenn Arnulf ein Geschäftsessen hatte, habe sie immer gewusst, in welchem Restaurant, antwortete Maria. Und bis in die Morgenstunden habe das auch nie gedauert. Schließlich wolle doch jeder mal heim zur Familie.

Thomas hatte sich alles angehört, sich entschuldigt und nicht viel dazu gesagt. Geschlafen hatte er in der Nacht nur wenig. Stattdessen hatte er sich eine Geschichte zurechtgelegt. Beim Geschäftsessen habe es ihm einfach nicht geschmeckt. Schlecht gewürzt, zu fade. Er habe nicht widerstehen können, sich auf dem Rückweg noch was bei Burger King zu holen. Daher auch der Ketchupfleck. Geht ja kaum wieder raus. Ja, er wusste, dass so was mitten in der Nacht ungesund ist. Das sollte er unbedingt betonen, damit man seine Reue auf die Fast-Food-Sünde bezog. Und nach dem Essen sei er auf einmal so müde geworden, dass er auf dem Parkplatz von Burger King einfach ein bisschen die Augen hatte ausruhen wollen. Und dabei sei er eingenickt. Und die Anrufe? Ja, ganz blöd, Akku leer. Er war ja den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte es vergessen aufzuladen. Zum Glück hatte er heute Nacht schon demonstrativ das Handy herausgeholt und am Schreibtisch ans Ladegerät gehängt. Er war daneben stehen geblieben, damit Rebekka nicht danach hatte greifen können.

Thomas war bewusst, dass die Geschichte nicht besonders gut war. Aber den guten Lügner zeichnet aus, bei einer schlichten detailarmen Lüge zu bleiben, egal wie absurd sie klingt.

Thomas streichelte Stefan, der sein Fläschchen leer genuckelt hatte, über die weichen Haare, als Maria die Tür aufschloss.

Sie legte den Mantel ab, grüßte ihn und nahm ihm Stefan ab, der kurz quengelte, sich aber dann doch in die Arme seiner Oma kuschelte.

Thomas stand auf und strich sein Hemd glatt: Ich fahr dann jetzt mal ins Krankenhaus. Stefan müsste ein bisschen schlafen.

Er zog seine Schuhe an und machte sich auf den Weg. Auf der Fahrt erzählte er sich selbst mehrmals seine Geschichte. In dem Blumenladen neben dem Krankenhaus kaufte er einen kleinen Strauß rote Rosen, bevor er zu Constanze ging.

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