Betrachtungsweisen in sozialmedizinischen Fragen – Ansichtssache

Kürzlich dachte ich darüber nach, wie oft ich schon mit eigenwillig anmutenden unterschiedlichen Betrachtungsweisen in sozialmedizinischen Fragen konfrontiert wurde. Ich möchte euch vorab einige Beispiele liefern, um untermauern zu können worauf ich hinaus möchte.

Meine Großmutter feiert im Mai ihren 96. Geburtstag. Sie kann sich über ihren Gesundheitszustand wohl nicht allzusehr beklagen, auch wenn die vielzitierte Selbstständigkeit in Anbetracht des hohen Alters natürlich nur mehr bedingt gegeben ist. Für diese notwendige Unterstützung haben wir, so denke ich, aber auch entsprechende sozialmedizinische Maßnahmen, die älteren Menschen den Alltag erleichtern sollen. Kurz nach ihrem 90. Geburtstag meinte die Sozialmitarbeiterin des Pensionistenwohnhauses, in dem sie seit 15 Jahren lebt, daß man ihr dazu raten würde bei der Stadt Wien einen Antrag auf Pflegegeld einzubringen. Als meine Oma ihren Hausarzt mit diesem Anliegen konfrontierte meinte dieser, daß ihr eine solche Leistung aus seiner Sicht keinesfalls zustehen würde. Von dieser Meinung rückte der Allgemeinmediziner auch nicht ab, als die Pflegegeldkommission mittlerweile die Pflegegeldstufe II zuerkannte. Ich gehe zwar nicht davon aus, daß der Hausarzt meiner Oma etwas Schlechtes wollte – doch wäre sie ausschließlich von seiner Sichtweise abhängig gewesen wären ihr entsprechende Unterstützungsleistungen versagt geblieben.

Aus einem Internetforum ist mir der Fall eines jungen Mannes aus Deutschland bekannt, der an einem bösartigen Hirntumor („Meningeom WHO Grad III“) erkrankt ist. Er kämpft mit relativ guten Erfolg gegen die wohl durchaus nicht leicht zu therapierende Krankheit an und kann seinen Job auch bisher weiterhin ausführen. Von Bekannten wurde ihm dazu geraten beim Sozialamt einen Antrag auf Zuerkennung eines Behinderten Status einzubringen, womit ihm das Leben etwas erleichtert werden sollte. Der Neurologe, bei dem er von Amts wegen vorstellig wurde, konnte diesem Anliegen aber nicht allzuviel abgewinnen und argumentierte, daß er „gar nicht wisse was er in diesen Antrag hineinschreiben solle“. Der Patient scheine im ersten Moment keinesfalls krank und wäre obendrein auch noch erwerbstätig. Erst eine Selbsthilfegruppe riet dem jungen Mann eine andere Stelle aufzusuchen, wo der Amtsarzt aufgrund der vorliegenden Arztbriefe und der doch recht eindeutigen Diagnose umgehend eine 80%ige schwere Behinderung attestierte. Wie schon gesagt, ich kenne diese Geschichte lediglich aus einem Patientenforum, kann mir aber nur allzu gut vorstellen, daß es sich tatsächlich so zugetragen hat. Ein Wahnsinn eigentlich…

Einen langjährigen Freund von mir begleitet von Geburt an eine spastische Lähmung, die seinen beruflichen Werdegang nicht selten im Wege stehen sollte. Auch wenn das Bundessozialamt ihm eine 80%ige Behinderung bescheinigte änderte dies nichts daran daß zahlreiche Lehrstellen gewechselt wurden und es nie zu einem Lehrabschluß kam. Der oft erwähnte Kündigungsschutz von Behinderten ist gerade bei Jugendlichen oftmals sehr zahnlos. Im Grunde genommen stand Alexander mit 18 Jahren arbeitslos und ohne einer abgeschlossenen Ausbildung da. Nach zahlreichen Anläufen erklärte sich letztlich das Sozialamt der Stadt Wien bereit ihm befristet eine sogenannte „Dauerleistung“ – vergleichbar mit einer erweiterten Sozialhilfe – zu gewähren. Seither ist Alexander vorerst finanziell abgesichert und arbeitet nebenbei als ehrenamtlicher Mitarbeiter bei verschiedenen Sozialeinrichtungen. Auch an diesem Fall stört mich nicht zuletzt die fehlende Rechtssicherheit. Ich denke, daß es für alle Beteiligten weitaus besser gewesen wäre wenn Alexander entsprechende öffentliche Unterstützung in seinem Ausbildungsweg erfahren hätte können. Manche werden jetzt meinen, daß es derartiges ohnehin gäbe. Das mag schon sein, doch kann ich euch versichern daß alle Versuche in diese Richtung damals auf keinen allzu fruchtbaren Boden gefallen waren.

Ich habe zu diesen drei Beispielen, die ich heute vorgestellt habe durchaus einen persönlichen Bezug, doch ließe sich diese Geschichte mit ähnlichen Fällen wohl leicht fortsetzen. Was ich mit meinen heutigen Kolumnen Beitrag aufzeigen möchte ist der Umstand, daß verbriefte Patientenrechte oftmals in sehr starken Umfang von der Betrachtungsweise des jeweiligen Arztes abhängig sind. Natürlich liegen bei allen sozialmedizinischen Maßnahmen entsprechende Kriterien auf, welche die begutachtenden Ärzte bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen haben. So besagt etwa eine Pflegegeldstufe I, daß ein Pflegebedarf von 60 Stunden im Monat gegeben sein müsse. Welche zuerkannten Einschränkungen nun einen Pflegebedarf von 60 Stunden rechtfertigen würden bleibt wohl ebenso schwierig zu beantworten wie die Frage wie man dies dann mit € 154,20 finanzieren soll.

Natürlich würde ich mir wünschen, daß sich an den offenbar durchaus unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Ärzte etwas ändern möge. Ich gehe davon aus, daß jeder Arzt der Meinung ist seine Entscheidungen bestmöglich zu treffen – doch dürften dann die in den heutigen Beispielen angeführten unterschiedlichen Wahrnehmungen nicht existieren. Für den Patienten kann die derzeitige Situation wohl nur eines heißen: Das Einholen einer Zweitmeinung hat noch nie geschadet!

Pedro

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