Die Reise

Dies würde ihr letzter Besuch hier werden. Ihre Knochen waren jetzt schon zu müde für lange Reisen. Der Tag am Flughafen hatte sie erschöpft, zwei Tage danach noch hatte ihr jeder Knochen wehgetan und der Klimaanlage im Flugzeug hatte sie einen Schnupfen zu verdanken. Nur diesen einen Urlaub würde sie noch genießen und dann von ihren Erinnerungen zehren. Von den Erinnerungen an die schönen Zeiten, an die Länder, die sie bereist hatte, an die Menschen, die sie geliebt hatte. Nun war sie allein. Ihre Liebsten hatten sie entweder verlassen oder waren gestorben. Sogar die, die jünger als sie waren und denen sie gerne ihr Leben geschenkt hätte, waren nicht mehr. Nur noch eine alte Frau, deren Gelenke bei jedem Schritt knirschten und schmerzten, war übrig. Ein schlechter Tausch für die Welt, dachte sie bitter.

Sie blickte auf. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken rissen auf, Sonnenlicht überflutete das hohe Gras der Wiesen. Sie ging weiter, ohne auf den Matsch zu achten, bis zu dem Steinkreis in der Mitte der Wiese. Sie betrat den Kreis und lehnte sich an einen der Steine. Wenn dieser Kreis tatsächlich Macht hatte, sollte er ihr doch helfen. Sie einfach woanders hinbringen, vermissen würde sie ohnehin keiner mehr, wer denn auch. In Büchern begannen solche Steine immer zu vibrieren und Macht auszustrahlen, wenn man sich ihnen näherte. Sie legte ihre Hand neben ihrem Oberschenkel an den Stein, aber sie fühlte nichts außer dem festen Stein, der mit einer glitschigen Moosschicht bedeckt war. Kein Vibrieren, kein Strahlen, keine Magie. Nur fester Stein, der hier seit Tausenden von Jahren herumstand und Moos ansetzte. So viel zum Glauben an Märchen und Erlösung.

Es war ihr plötzlich, als ob jemand sie beobachtete, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemand anders sich bei diesem Sauwetter vor die Tür gewagt haben könnte. Sie sah sich um und erschrak, als sie auf der anderen Seite des Kreises ein Pferd entdeckte, eine kleine, etwas mollige Schimmelstute. Das Pferd sah genauso aus wie das Pferd, das sie vor fast vierzig Jahren besessen hatte. Ihre Augen wurden wohl auch langsam alt, grinste sie verbissen in sich hinein. Trotzdem ging sie vorsichtig auf die Stute zu, redete beruhigend auf sie ein und fragte sich, wo das Tier wohl herkam. Die Stute trug kein Halfter, also war sie wahrscheinlich irgendwo von einer Weide mit kaputtem Zaun ausgebüxt. Je näher sie kam, desto mehr fiel ihr die Ähnlichkeit zu ihrem eigenen Pferd auf. Selbst die rosa Narbe über den Nüstern, die nach einer Verletzung an einem rostigen Nagel geblieben war, war identisch. Sie stand jetzt nur noch eine Armlänge von der Stute entfernt, aber noch immer scheute das Tier nicht, sondern wackelte nur ein wenig mit den Ohren. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und zuckte sofort zusammen. Das Pferd schnaubte erschreckt, wich aber nicht zurück. Sie konnte nur noch auf ihre Hand blicken, aber das war nicht ihre eigene Hand, die sie dort an dem Hals des Pferdes sah. Die Hand, die sie ausstreckte, war glatt, zart, jung, ohne Altersflecken, mit kräftigen Nägeln. Mit der anderen Hand begann sie ihr Gesicht zu betasten. Auch hier war die Haut glatt und fest. Ihr Haar war nicht mehr dünn und kurz, sondern voll und mehr als schulterlang. Sie zog eine Strähne vor ihre Augen, sie war wieder dunkelbraun wie vor so vielen Jahren.

Ungläubig streichelte sie das Pferd, das ihr in die Hand schnaubte wie einer alten Freundin. Sie ging ein paar Schritte und spürte keine Schmerzen mehr beim Gehen. Übermütig griff sie in die Mähne des Pferdes, sprang ab und zog sich auf den Rücken der Stute, was sie selbst in jungen Jahren nur selten geschafft hatte. Brav blieb das Tier stehen, bis sie ihm die Fersen in die Seite drückte und losritt.

Als sie bei Einbruch der Dunkelheit nicht von ihrer Wanderung zurückkehrte, verständigte ihre Landlady die Polizei. Noch am selben Abend befragte man Leute und begann die Orte abzusuchen, an denen man sie zuletzt gesehen hatte. Doch nirgendwo fand man eine Spur von ihr. Auch in den nächsten Tagen suchte man weiter, aber sie blieb verschwunden. Lediglich die alte Patti behauptete, sie habe eine Frau auf einem Pferd über die Wiesen reiten sehen, es sei jedoch eine junge Frau mit langem braunem Haar gewesen. Aber jeder wusste, dass die alte Patti immer Gespenster sah.

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