Geh weg!

Anita schreckte hoch.
Schweiß gebadet.
Ihr Herz schlug ganz wild.
Sie zitterte am ganzen Körper.
Ihre Hand tastete nach dem Schalter der Lampe.
01:35 Uhr.
Anita ließ sich auf das Kissen fallen.
Schloss die Augen.
Wieder…
Noch immer…
Obwohl es schon länger als ein Jahr her war.
Wieder ein Traum.
Ein Albtraum.
Und sie empfand alles so echt.
Wie damals.
Als wäre es erst gestern passiert.
Ihr Kopf schmerzte.
Sie fühlte jeden Pulsschlag wie einen Hammer.
Sie brauchte ihre Tabletten.
Die starken.
Sonst würde sie auch heute Nacht nichts mehr schlafen…

Anita saß in der Küche.
Vor sich ein Glas Wasser.
Halb ausgetrunken…
Es würde dauern, bis die Tabletten wirkten.
Eine halbe Stunde.
Vielleicht auch länger.
Anita stöhnte leise.
Drückte Eis an die Schläfen.
Es betäubte die Schmerzen nicht.
Aber es machte sie trotzdem erträglicher.
In ihrem Kopf lief ein Film ab.
Ein Film wie schon hundert Nächte zuvor.
Das schleimige Grinsen von Herrn Grinninger.
Seine widerlichen, wulstigen Lippen.
Und die Art, wie er sich mit der Zunge über die Lippen leckte.
Wann immer er sie sah…
Wer war Grinninger schon?
Ein Arbeiter im Lager.
Der Pakete herrichtete.
Abholte und brachte.
Einmal abgesehen davon, dass sie ihn nie gemocht hatte.
Die ganze Zeit schon nicht.
Ein unauffälliger Mann.
Pünktlich und verlässlich.
Ein langjähriger Mitarbeiter.
Und die Vorgesetzten waren zufrieden mit ihm…

Anita atmete tief ein.
Jener Freitagnachmittag vor dem Feiertag…
Sie hatte noch etwas zu erledigen gehabt.
Ein paar dringende Anfragen.
Und Grinninger war ins Büro gekommen.
Um die Post abzuholen.
Wie üblich.
Plötzlich hatte sie seine Hand auf der Schulter gespürt.
Die auf ihren Busen tastete.
Ihn zu massieren begann.
Und dann spürte sie seine wulstigen Lippen am Hals.
Währen die andere Hand ihren Mund zupresste.
Sie hätte ohnedies nicht schreien können.
Sie war wie gelähmt.
Wie in der Falle…
Der Gedanke kam ihr später öfter.
Sie hatte sich gefühlt wie in einer Falle.
Wie im Schraubstock von Grinningers Händen.
Schließlich war sie aufgesprungen.
Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie die Kraft noch hatte.
Und war ein paar Schritte gelaufen.
Sie hatte dabei Grinninger fixiert.
Während ihre Hand am Schreibtisch suchte.
Bis sie den schweren Locher fühlte.
Und packte…

Grinninger hatte gelacht.
Ein breites Grinsen ließ ihn noch abstoßender wirken.
Anita hatte noch immer nicht reden können.
Kein Wort.
Aber die Drohgebärde wirkte.
Grinninger nickte.
Sein Blick war lauernd.
Die Augen drohten.
Ich krieg dich…
Grinninger ging dann.
Leise und unauffällig.
Anita griff an ihren Hals.
Spürte Grinningers Speichel an ihrem Hals.
Dort, wo er gesaugt hat.
Ekel stieg in ihr auf.
Plötzlich war ihr speiübel.
Und am liebsten hätte sie sich übergeben…

Geh zur Polizei!
Rede mit deinen Vorgesetzten!
Der Kerl kann wieder über dich herfallen.
Wann immer du allein im Büro bist.
Anita wischte eine Träne weg.
Niemand hätte ihr geglaubt.
Niemand.
Sie war allein mit Grinninger im Büro gewesen.
Kein Zeuge.
Und seinen Speichel hatte sie längst abgewischt gehabt.
Sie hätte nur Schwierigkeiten bekommen.
Bei Grinningers tadellosem Leumund.
Eine Verrückte!
Die redet sich alles nur ein!
Hat wohl einen Hass auf Männer.
Seit sie ihr Freund verlassen hat…
Genauso wäre es gewesen.
So und nicht anders.
Wenn sie den Fall angezeigt hatte…
Dabei war Grinninger vorbestraft gewesen.
Für eine ähnliche Sache.
Die lag aber schon Jahre zurück.
Niemand hatte davon gewusst.
Auch sie nicht…

Binnen Wochen war sie ein nervliches Wrack geworden.
Sie schlief schlecht.
Sie war unkonzentriert.
Und Fehler passierten immer häufiger.
Dazu war die panische Angst gekommen.
Davor, wieder allein auf Grinninger zu treffen.
Der sich sicher fühlte.
Der sie ungeniert angrinste.
Wann immer er ins Büro kam.
Und der sie mit den Augen auszog…
Anita hatte irgendwann gemerkt, dass sie sich verändert hatte.
Keine kurzen Röcke mehr.
Keine ausgeschnittenen Blusen mehr.
Sie fühlte sich schuldig.
Schuldig für ihren Körper.
Für ihre Weiblichkeit.
Und dafür, dass Grinninger sie haben wollte…

Im Grunde war es ein Zufall gewesen.
An einem Abend war sie eine Lieferung durchgegangen.
Vertieft in ein Fax hatte sie Grinninger nicht bemerkt.
Der über sie hergefallen war.
Die Bluse hochgeschoben hatte.
Und ihre Jeans geschickt geöffnet hatte.
Wieder hatte sie nicht schreien können.
Aber das Gefühl in ihr.
Die Angst.
Die Demütigung.
Die Panik, vergewaltigt zu werden…
All das war furchtbar gewesen.
Unerträglich.
Und trotzdem war sie unfähig gewesen sich zu bewegen.
Wie im Schraubstock…
In diesem Moment war ein Kollege zur Tür hereingekommen.
Er hatte seine Autoschlüssel vergessen gehabt…
Grinninger hatte unwillig gegrunzt.
Und sie sofort losgelassen…

Später hatte er behauptet.
Sie hatte es ja gewollt.
Die ganze Zeit sei sie schon scharf auf ihn gewesen.
Den Job hatte er trotzdem verloren.
Zu eindeutig die Situation…
Ein geringer Trost trotzdem.
Die Gespräche mit den Polizeibeamten waren schlimm gewesen.
Sie war immer wieder in Tränen ausgebrochen.
Weinkrämpfe.
Die Vorgesetzten waren verständnisvoll.
Gehen Sie in Urlaub.
Nehmen Sie sich ein paar Tage frei.
Trotzdem hing der Vorwurf in der Luft.
Warum hat sie nicht früher geredet?
Sie ist selbst schuld.
Die Kopfschmerzen befielen sie.
Von einem Tag auf den anderen.
Und sie kamen immer wieder.
Dazwischen Fressattacken.
Oft tagelang.
Dann erbrach sie wieder alles.
Und immer wieder die Stimmen der Kollegen.
Lass dir Zeit!
Das wird alles wieder.
Aber was wussten die schon?
Grinninger ließ sie nicht los.
In ihren Träumen war er sehr real.
Und sie konnte noch immer nicht schreien.
Geh weg!
Sie konnte es einfach nicht…

Vivienne

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