von Vivienne – Februar 2005
Die Ballade von den beiden Frauen
Engel 1717 fühlte sich etwas nervös.
Er war auf dem Weg zu Gottvater.
Der hatte ihn gerufen.
Eine Aufgabe für dich!
Komm schnell in mein Büro!
Nun fragte sich 1717, was das für ihn hieß.
Heißen könnte.
Als er das Büro des Chefs betrat, zögerte er.
Neben Gott selbst stand ein anderer Engel.
1717 kannte ihn flüchtig.
2801 war das.
Ein Streber.
Sehr gottgefällig.
Gott bemerkte 1717s Zögern aber gleich.
Nur herein.
Ich habe eine Aufgabe für euch.
Ich möchte euch testen.
Auf Feinfühligkeit.
Und auf Menschlichkeit.
Setzt euch.
Die beiden Engel warfen sich Seitenblicke zu.
1717 überlegte.
Er würde keine leichte Position haben.
Neben 2801.
Petrus hatte ihn angeblich in den höchsten Tönen gelobt.
Schon des Öfteren.
Seid ihr bereit?
Die Stimme des obersten Chefs holte ihn wieder zurück.
Ich werde euch beiden eine Geschichte erzählen.
Eine Geschichte, die sich wirklich zugetragen hat.
Sie handelt von zwei Frauen.
Beide waren sie verheiratet.
Und nicht ganz glücklich.
Die eine hatte eine Tochter.
Ihr Mann hätte gern mehr Kinder gehabt.
Aber sie wollte nicht.
Sie war unglücklich.
Ihre Liebe zu ihrem Mann war längst erkaltet.
Und sie betrog ihren Mann.
Immer wieder.
Mit allen möglichen Männern.
Er ahnte nichts davon.
Und schließlich wurde sie schwanger.
Überraschend.
Ihr Mann freute sich sehr darüber.
Auch die Frau selber war zufrieden.
Sie hatte das Kind nicht gewollt.
Sie war unachtsam gewesen.
Außerdem war es nicht von ihrem Mann.
Aber wenn der glaubte, es wäre von ihm
Wie schön!
So war alles am besten für sie.
Und zu aller Zufriedenheit.
Dachte sie.
Was wollte man mehr?
Gott schwieg.
Sah die beiden aufmerksam an.
Dann fuhr er fort.
Der anderen Frau ging es nicht viel anders.
Auch sie hatte ein Kind.
Und auch sie war in der Ehe nicht glücklich.
Sie liebte ihren Mann schon lange nicht mehr.
Aber er war ihr ein wichtiger Freund geworden.
Eine Stütze.
In all den Jahren
Diese Frau hatte einen Geliebten.
Und auch sie wurde schwanger.
Ungewollt.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Ihr Mann hätte genau gewusst, dass er nicht der Vater sein konnte.
Ein Betrug wäre nie gelungen.
Und sie dachte an ihr Kind.
Ihre Familie würde zerfallen, wenn ihre Schwangerschaft offenbar werden würde.
Und dann würde sie nicht nur ihren Mann verlieren.
Sondern auch ihr älteres Kind.
Gottvater machte erneut eine Pause.
Er blickte die beiden Engel an.
Ihr schlechtes Gewissen machte ihr schwer zu schaffen.
Sie hätte ihr Baby gern behalten.
Aber sie wäre allein gewesen
Völlig auf sich allein gestellt.
In ihrer Not ließ sie das Kind wegmachen.
Ihr Gewissen hat sie nie mehr besiegt.
Aber wenigstens ihre Familie gerettet.
Gott verschränkte die Arme.
Nun ihr beiden.
2801 und 1717.
Welche der beiden Frauen hat mehr gesündigt?
2801 lächelt siegesgewiss.
Er stand auf.
Natürlich ist die zweite Frau die größere Sünderin.
Sie ist eine Mörderin.
Denn sie hat das Kind getötet.
Das Kind der Sünde.
Er nickte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Gott blickt nun 1717 an.
Was sagst du?
1717 stand langsam auf.
Ich bin anderer Ansicht.
Mich rührt das Schicksal der zweiten Frau sehr.
Sie hat ihren Mann betrogen.
Aber das tat die erste auch.
Und jene schob das Kind vom anderen Mann ihrem eignen Mann unter.
Baut das vermeintliche Glück auf Lüge und Betrug auf.
Welch ein mieser Charakter!
Aber die zweite Frau
Sie war in einer Zwickmühle.
Sie hat sich letztlich für ihre Familie entschieden.
1717 blickt Gottvater fest an.
Sie tut mir leid.
Sie trägt die Hölle in sich.
Nicht vorrangig Gott muss ihr vergeben.
Sondern sie selbst sich.
Dann setze er sich.
Gottvater schwieg.
Er kratzte sich kurz am Bart.
Dann winkte er 2801 zu sich.
Hast du gehört, was 1717 gesagt hat?
Lass es dir durch den Kopf gehen.
Ganz genau.
Er hat nämlich recht
2801 erstarrte.
Seine Augen wurden tellergroß.
Dann nickte er und verließ das Büro des Chefs.
Mit enttäuschtem Gesicht.
Gottvater winkte nun 1717 heran.
Er legte ihm den Arm auf die Schulter.
Ich bin sehr zufrieden mit dir
Weiter so!
1717 bedankte sich.
Der Chef machte nie viel Worte.
Aber so viel wusste er.
Das war ein Riesenlob!
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