Fast wie Stockis Sohn

Vor ein paar Wochen besuchten wir meine Schwester und ihre Familie. Da sie in der „Provinz“ leben, sehe ich sie, ihren Mann und die Kinder viel zu selten. Auch den ominösen Kater Hugo, von dem sie mir schon so viel erzählt hatte, durfte ich erst einmal zuvor bewundern. Das war vor einem guten Jahr gewesen und damals war der kleine feuerrote Teufel noch sehr jung gewesen und hatte ständig mit einem ebensogroßen (oder kleinen) Kater in der Nachbarschaft gespielt. Nur dass der halt pechscharz gewesen war. Das bunte Treiben der beiden Katerchen war lustig anzusehen gewesen und ich war gespannt, wie sich die beiden Tiere weiterentwickelt hatten.

Vorerst traf ich jedoch nur auf Hugo. Nach der Begrüßung der Familie sah ich mich im Wohnzimmer um. Die Kinder hatten jede Menge Spielsachen ausgeräumt und auf dem Fußboden verteilt. Auf der Couch lag Hugo und als ich ihn erblickte stockte mir der Atem. Was war mir doch sein Anblick vertraut! Hugo schien auf den ersten Blick eine Kopie von Stocki zu sein, als der noch ein junger Kater gewesen war. Ganz baff trat ich auf den Stubentiger zu. Der regte sich kaum, als er mich hörte und öffnete seine Augen nur zu einem ganz schmalen Schlitz. Diesmal geriet ich in Begeisterung.

Der kleine Hugo hatte bernsteinfarbene Augen, ganz apart und eigenwillig. Die Kombination von rotem Fell und bernsteinfarbenen Augen kommt nicht so oft vor. Das war auch das einzige Unterscheidungsmerkmal zu Stocki, dessen Augen fast phosphoreszierend grün schillerten. Und schlanker war Hugo noch, wenn ich mir Stockis breiten Rücken in Erinnerung rief. Aber du bist ja noch jung! dachte ich mir während ich den wunderschönen Kater zärtlich streichelte. Der hatte die Augen mittlerweile wieder geschlossen und schnurrte zufrieden, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass ihn eine wildfremde Person streichelte.

Bei all den schlechten Erfahrungen die dieser Kater schon gemacht hatte, wäre es für mich nicht erstaunlich gewesen, wenn er die Flucht ergriffen hätte. Stattdessen lag er da wie unser Kater Stocki vor vielen Jahren und eine Menge Erinnerungen kamen in mir hoch, an eine Zeit, die sehr schön gewesen war und die fast unwirklich verklärt und friedlich erschien im Vergleich zu dem, was ich seither alles erlebt hatte. Die beiden Töchter meiner Schwester standen neben mir, plapperten miteinander und konnten dieses Wunder, dem ich da zu begegnen schien, gar nicht begreifen. Natürlich kannten die beiden unseren Stocki, und ich erinnere mich gut, wie Tina, die jüngere und mutigere der beiden, ein gutes Jahr alt und gerade erst gehen gelernt, fasziniert auf unseren Stocki zugelaufen war um ihn ins Wohnzimmer zu schleppen.

Vielleicht schleppte auch Stocki sie, das war zu diesem Zeitpunkt nicht ganz deutlich zu erkennen gewesen. Stocki, das gutmütige Geschöpf ließ sich diese Behandlung friedlich gefallen obwohl sie ihm sichtlich nicht behagte. An diese Szene musste ich jetzt auch wieder denken, aber da wartete meine Schwester schon mit Kaffee, Kuchen und Strudel auf und ich musste mich von diesem goldigen Kater wieder trennen. Während wir zugriffen und Geschichten austauschten, erhob sich der rote Kater gemächlich, streckte seinen Rücken durch und trabte unbeachtet in Richtung Kinderzimmer davon. Etwa eine halbe Stunde später tönte die Stimme meines Schwagers ziemlich ärgerlich aus dem Flur. „Na so ein Miststück! Hugo liegt schon wieder in Lisas Bett!“ Ich musste grinsen. Ja, der gute, alte Stocki nutzte auch jede Gelegenheit im Schlafzimmer unterzukommen und auch der Kleiderkasten übte eine stetige Faszination auf ihn aus.

Der Mann meiner Schwester beförderte den Kater unsanft aus dem Bett seiner Tochter. Ganz als wäre nichts gewesen marschierte der Rote zur Futterschüssel und fraß ein paar Stückchen Kitekat. Zufrieden kehrte unser Schwager an den Kaffeetisch zurück und griff wieder ins Gespräch ein. Was er dabei übersah, war, dass der Kater sich, sobald sein Herrchen außer Blickweite war, verstohlen wieder ins Kinderzimmer schlich um weiterzuschlafen. Meine Schwester entdeckte ihn erst wieder, als wir Stunden später gerade im Begriff waren, uns auf den Heimweg zu machen. Ihr Mann hatte keine schmeichelhaften Worte für den Kater, der dennoch majestätisch und fast provokant langsam aus dem Kinderzimmer ging, nachdem dieser ihn fast grob aus dem Bett befördert hatte.

Tatsächlich, dachte ich mir bei der Heimfahrt. Hugo könnte tatsächlich beinahe Stockis Sohn sein, er glich ihm in vielem, nicht nur allein wegen des feuerroten Fells. Nur gewichtsmäßig müsste der süße Kater mit den bernsteinfarbenen Augen noch ein wenig zulegen um noch mehr Ähnlichkeit mit unserem Stocki zu bekommen. Aber auch das kommt vielleicht noch. Irgendwann. Stocki war schließlich auch nicht mit fünf Kilo Lebengwicht zur Welt gekommen…

Vivienne

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