Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Dezember 2004



Birth

Schon im Vorfeld hat Jonathan Glazers neuer Film mit Nicole Kidman in der Hauptrolle hohe Wellen geschlagen. Jetzt kommt der Streifen in unsere Kinos und ich hatte dieser Tage das Vergnügen, ihn in einer Sneak Preview in englischer Originalfassung zu sehen. Ein ungemein interessanter Film mit einer einmal mehr beeindruckenden und wunderschönen Nicole Kidmann, diesmal in einem Kurzhaarschnitt. Wenn Sie Gelegenheit haben, sich „Birth“ im Kino zu Gemüte führen zu können, ignorieren Sie getrost die negativen Schlagzeilen – viel Lärm um nichts. „Nur“ ein bemerkenswerter Film mit exzellenten Schauspielern…

Ein Jogger stirbt, einsam in einem Park. Fast gleichzeitig erblickt ein Kind das Licht der Welt. Schnitt. Jo feiert Verlobung. Nach neun schier endlosen Jahren hat ihn Anna endlich erhört und wird ihn heiraten. Zu den Gästen gesellen sich auch Clifford und seine Frau Clara. Clara trägt ein Päckchen in der Hand, aber im letzen Augenblick läuft sie wieder aus dem Lift – sie möchte noch eine Masche an das Päckchen machen lassen. Kurz darauf vergräbt sie das Päckchen im Garten und kauft in einem Geschäft etwas anderes…

Anna ist die Witwe des Joggers und sie hat ihren Mann abgöttisch geliebt. Am Tag nach der Verlobung taucht ein kaum zehnjähriger Junge bei Anna und ihrer Familie auf. Er möchte sie sprechen. Anna gibt nach und wird in den nächsten Momenten mit etwas Unfassbarem konfrontiert. Er sei Sean, sagt der Junge. Sean war Annas Mann. Der Mann, den sie fast zehn Jahre gebraucht hat, aus ihrem Leben zu verdrängen. Anna hält das Ganze zuerst für einen üblen Scherz, sie lässt den Jungen wegbringen, aber Sean lässt nicht locker. Er schreibt ihr einen Brief, in dem er sie bittet, Jo nicht zu heiraten.

Und er wird immer hartnäckiger. Auch Seans Eltern können sich sein Verhalten nicht erklären. Seiner Mutter hat er von einem Tag auf den anderen erklärt, er wäre nicht ihr Kind. Und Sean weiß viel, fast alles über seine „Familie“, seine Frau, das gemeinsame Leben. Anna beginnt sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass der Junge tatsächlich die Reinkarnation des geliebten Mannes sein könnte. Das mühsam errichtete Kartenhaus, in dem sie Jo, ihren Verlobten, nach so vielen Jahren vermeintlich zu lieben gelernt hat, gerät mehr und mehr ins Wanken. Jo selber wird mit der Situation nicht mehr fertig, fassungslos muss er mit ansehen, wie er sukzessive Terrain gegenüber seinem kindlichen Nebenbuhler verliert.

Schließlich verliert er die Nerven und geht er wie ein Verrückter auf Sean los. Nach dieser Entgleisung verlässt er Anna und das Haus, aber man hat nicht das Gefühl, dass es Anna wirklich leid tut. Zu tief ist sie beherrscht von der Möglichkeit, ihren Mann in diesem Kind wieder gefunden zu haben. Der Skepsis ihrer eigenen Familie, Mutter wie Schwester, zum Trotz. Anna denkt sogar an Flucht mit Sean, irgendwohin, wo sie bleiben können, bis er 21 und volljährig ist. Aber Clara, Cliffords Frau, weiß genau, dass der Junge nicht Sean sein kann, denn sie ist hinter das Geheimnis des Buben gekommen….

Mehr zu verraten wäre an dieser Stelle nicht richtig, aber das Puzzle löst sich auf überraschende Art und Weise auf. Anna wird zu Jo zurückkehren, aber es ist nur die Rückkehr zu einer Lebenslüge. In Wirklichkeit hat sie nie aufgehört, Sean zu lieben, nur brauchte es diesen Jungen, um das offenbar zu machen… Anna – eine weitere Paraderolle für Nicole Kidmann, die ich in dieser Rubrik schon öfter das Vergnügen hatte, als eine der hervorragendsten Schauspielerinnen dieser Zeit hervor zu heben. Sie gibt ihrem Part Profil und Kontur, wir erleben die Entwicklung ihrer Gedanken hautnah mit: vom Ärger über die ersten Zweifel bis hin zur Gewissheit – und dennoch nur Selbstbetrug. Die Kidmann wurde übrigens teilweise vehement angegriffen, und zwar wegen vermeintlicher pornographischer Szenen mit dem zehnjährigen Sean (Cameron Bright).

Der Wirbel ist nicht ganz nachvollziehbar, weil die beiden anstößigen Szenen (ein Kuss und in der Badewanne) sehr geschmackvoll und behutsam gelöst wurden. Der kleine Cameron Bright gibt als Sean eine Talentprobe ab, und wer achtgibt, wird feststellen, dass er im Film nur in einer einzigen Szene lächelt. Lauren Bacall, die große alte Dame des Films, setzt allein durch ihre Präsenz wichtige Akzente des Films. Trockener Humor, wenige aber kernige Sätze zeichnen ihre Rolle aus, die sie bravourös trägt. Danny Huston als Jo ist der Verlierer der Geschichte, man fühlt mit ihm, wenn er verzweifelt um die Frau kämpft, die er liebt, und die er so lange umworben hat. Im Grunde hat sie ihm aber nie gehört, auch wenn sie wieder zu ihm zurückkehrt…

Jonathan Glazer hat einen vielschichtigen Film geschaffen, den er congenial mit leichter, spritziger Musik von Richard Wagner untermalte. Auch wenn manche Wendung im Film vielleicht unnötig oder überzogen zu sein scheint und Seans „Enttarnung“ den einen oder anderen enttäuschen wird: ein ungewöhnlicher Film mit atmosphärischer Dichte ist „Birth“ auf jeden Fall geworden. Und in gewisser weise auch ein tragischer Liebesfilm. Nicht nur, wegen des unglücklichen Jo, sondern auch wegen Anna selbst, die nie über Seans Tod hinwegkommen wird…

Vivienne

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