Mein Rücken schmerzte, und meine Augen waren lichtempfindlich. Schon in der Arbeit hatte ich den Mondkalender studiert, ob der Erdtrabant wohl gerade durch ein Lichtzeichen gehen mochte – das hätte die Lichtempfindlichkeit erklärt. Aber Teufel auch – der Mond wanderte durch den Stier, er war also an meinen Beschwerden völlig unschuldig. Ich schielte in der Zwischenzeit auch immer öfter auf die Uhr am PC – ich musste heute Überstunden machen und Albert hatte mir schon zwei SMS geschickt: „Warte mit Rindsrouladen – muss ich alleine essen L?“ Ja, ich war mir schon bewusst, dass er hungrig war, aber ich konnte nun mal nicht einfach die Arbeit liegen lassen und heimfahren. Da kam eben die nächste SMS herein: „Nur mehr eine Roulade übrig!“ ließ mich meine bessere Hälfte wissen. Oh, der beste aller Ehemänner war wieder unglaublich humorvoll…
Eine Kollegin, Margot, schlich mit Leichenbittermiene am Faxgerät vorbei und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie glaubte sich unbeobachtet, aber mir war ihr gerötetes Gesicht schon den ganzen Tag aufgefallen. Und ich wusste auch warum sie so niedergedrückt wirkte: durch das Büro geisterte die Feme, dass ihre Mutter ihren Vater verlassen hatte, und das nach unglaublichen fast 35 gemeinsamen Ehejahren! So, als wären diese gemeinsamen Jahre nichts gewesen, nichts! Ich verstand schon, dass Margot sich den Tränen nahe fühlte, selber fand ich den Gedanken allerdings eher komisch, ich musste immer wieder heimlich kichern bei der Vorstellung. Natürlich war so ein Verhalten völlig deplaziert und für Margots Vater musste es wohl furchtbar sein, nach so langer Zeit plötzlich ganz allein in dem großen Haus zu wohnen, dass er gemeinsam mit seiner langjährigen Gefährtin gebaut hatte…
Ich bemühte mich, mich auf die Mail zu konzentrieren, die ich gerade bearbeitete, aber ich schaffte es einfach nicht. Margot schwebte wortlos an mir vorbei, fast wie ein Geist und schluchzte gerade wieder verhalten. Ich selber bohrte mir die Fingernägel ins Fleisch um zu verhindern, dass ich wegen der obskuren Geschichte erneut zu schmunzeln begann. Plötzlich sah ich das Gesicht von Margots Vater vor meinem inneren Auge… Bei Margots Hochzeit hatte ich ihn kurz kennen gelernt, ein an sich netter älterer Herr mit Vollbart und dem Ansatz einer Glatze. Jung geheiratet hatten er und Margots Mutter und drei Kinder miteinander gehabt, von denen meine Kollegin die jüngste war… Verlässt man so einen harmlos wirkenden Mann und Opa so einfach nach 35 Jahren? stellte ich mir die Frage und unterbrach mich gleich selber. Ich kannte den Mann nicht und dass er harmlos auf mich gewirkt hatte, hieß im Grunde genommen gar nichts. Wer weiß wie sehr Margots Mutter vielleicht jahrzehntelang darunter gelitten hatte, dass er so ein Haustyrann gewesen war?
Ich räusperte mich und löschte die Mail mit der Anfrage. Gott sei Dank war diese Sache endlich erledigt. Ich stand auf, reckte mich und blickte aus dem Bürofenster. Es war dunkel geworden und die bleiche Mondsichel wirkte melancholisch im Dunkel der Nacht. Nun grinste ich nicht mehr über diese Geschichte, nein, ich sezierte sie und begann mir Varianten auszudenken… Vielleicht war der gute Mann aber wirklich einfach zu harmlos für seine Frau gewesen. „Passt schon, Schatzi!“ oder „Ich mach eh alles was du willst, Liebes!“ Das kann anödend sein in einer Beziehung, sehr anödend. Manche Frauen suchen lieber den Widerpart! Und möglicherweise hatte Margots Mutter noch einmal das Feuer gesucht in ihrem Leben – bevor es endgültig zu spät dafür war. Nun musste ich doch wieder lachen. Schwer vorstellbar, dass eine Frau weit über Fünfzig unter Umständen sogar mit einem jungen Liebhaber geflohen war, ganz romantisch in einer Vollmondnacht und nur mitgenommen hatte, was sie auf dem Leib trug! Aber ja, ganz bestimmt! Heute gingen die Frauen doch eher zu einem Scheidungsanwalt und klagten ihr Geld ein!
Ich fuhr den Computer herunter und drehte ihn dann ab. Aber wenn die Geschichte vielleicht doch ganz anders gewesen war? Margots Vater hatte möglicherweise ganz gezielt versucht seine Frau loszuwerden? Sie provoziert und gedemütigt, bis sie ging – freiwillig und am Boden zerstört? Ja, weiß man es? Abgründe leben in den Menschen, man musste nur an diesen wahnsinnigen Inzestvater aus Amstetten denken: wer hätte in diesem Menschen beim bloßen Vorbeigehen schon vermutet, dass er abartig war und seiner Tochter sechs Kinder gemacht hatte? Eben… Ich zog die Stirn in Falten und stellte mir das Gesicht von Margots Vater mit grimmigem, bösartigem Gesichtsausdruck vor – es gelang nicht ganz, denn ich musste wieder kichern. Nein, als einen zutiefst schlechten Menschen hatte ich Margots Vater nun wirklich nicht in Erinnerung, aber dass er womöglich todtraurig war, weil er jetzt verlassen worden war, das musste nicht unbedingt sein…
Nein, nicht notwendigerweise. Womöglich ging er jetzt sogar öfter kegeln oder zum Stammtisch, weil es früher seiner Frau nicht recht gewesen war. Vielleicht fühlte sich der alte Mann sogar richtig glücklich, das erste Mal seit vielen Jahren, weil die Liebe schon lange gestorben gewesen war. Oder er suchte sich gleich eine neue Frau – im örtlichen Pensionistenverband! Warum auch nicht? „Sperrst du das Büro ab?“ Margots Stimme klang sehr gepresst. Ich zuckte zusammen, weil ich in Gedanken nun schon einige Zeit äußerst unpassende Überlegungen zu ihrem verlassenen Vater angestellt hatte. Also nickte ich nur und bemühte mich um ein Lächeln, das irgendwie sehr unecht aussehen musste. Margot schien das nicht zu bemerken, sie nickte und hauchte ein gequältes „Bis morgen dann!“ Ich blickte ihr noch nach, als ich gerade wieder eine SMS von Albert erhielt: „Wenn du nicht gleich kommst, verlasse ich dich wegen seelischer Grausamkeit!“ Mir blieb die Luft weg. Unterstehen sollte er sich!
© Vivienne