Beinahe ein Unglück

Mir zitterten eine halbe Stunde später noch die Hände und das Herz schlug mir bis zum Hals… Und mir war schlecht. Samstagvormittag. Ich war mit Albert unterwegs gewesen, um noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Mittags waren wir bei Bea und Louis eingeladen, wir hatten es also eilig, denn ich wollte mich vorher noch umziehen. Albert wollte sich noch ein paar neue Handys bei einer bekannten Elektrokette ansehen, ich selber verschwand schnell in einem Drogeriemarkt, um mir die verbilligten Parfüms zu Gemüte zu führen. Mitten unter dem Sinnenrausch läutete das Handy, Albert war am Apparat und drängte mich: „Komm zu einem Ende, Vivi. Sonst wird es wirklich knapp…“ Ich löste mich ungern aus der Duftwolke, folgte aber dem Ruf meines Mannes.

Ich verließ den Drogeriemarkt eiligen Schrittes, lief den Stufen hinunter und da winkte mir Ali schon von der anderen Straßenseite. Ich blickte kurz auf: die Ampel war grün, also winkte ich Albert zurück und setzte den Fuß auf den Zebrastreifen. Plötzlich schrie Ali auf, Entsetzen zeichnete sich in seinem Gesicht, aber es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff: ein Autofahrer mit Mühlviertler Kennzeichen bog mit überhöhter Geschwindigkeit in die Kreuzung ein und offensichtlich hatte ihm ein Bus zuvor den Blick auf mich versperrt. Denn scheinbar ungebremst schoss der Wagen auf mich zu, die ich mitten auf dem Zebrastreifen stehen blieb und total perplex auf den grünen Fiat starrte…

Die Zeit lief wie in Zeitlupe ab. Der Wagen kam schließlich doch zum Stehen, vielleicht zehn Zentimeter vor mir, und dann spürte ich, wie mir die Knie weich wurden. Ich stürzte mit den Knien auf die Straße, ich hatte keine Kraft mehr. Der Schock saß mir in den Knochen, der Fahrer des Fiats stand vor mir und sagte etwas, aber ich verstand ihn nicht. Ali nahm mich unvermittelt bei der Hand, streichelte mir über den Kopf und redete mit mir, angestrengt und mit einem Gesichtsausdruck, der große Sorge ausdrückte. Erst als Albert eine heftige Diskussion mit dem Fiatfahrer begann, setzte mein Gehör wieder ein. Ich bekam rasende Kopfschmerzen, während mein Mann dem Fahrer des grünen Wagens jede Menge Unfreundlichkeiten über sein Fahrverhalten an den Kopf warf.

Mittlerweile staute sich der Verkehr rund um uns, ein paar ungeduldige Autofahrer begannen zu hupen und ich stand langsam wieder auf. Albert führte mich über die Straße und der eilige Autofahrer setze sich in seinen Fiat um weiterzufahren. Nach außen hin ungerührt – es war ja nicht viel passiert, so sein Grundtenor. Unser Auto stand etwas weiter vorn in einer Tiefgarage und als wir den Wagen ansteuerten, wurde mir speiübel von der schlechten Luft, die von Treibstoff angereichert war. Am liebsten hätte ich mich übergeben, aber als Ali mich fragte, ob ich auch okay wäre, nickte ich. Tatsächlich schafften wir es in unsere Wohnung, wo ich zwei Aspirin schluckte und am offenen Küchenfenster trotz der frostigen Temperaturen wie verrückt frische Luft inhalierte.

Gerade als ich mich besser zu fühlen begann und ich mir dachte, ich müsste mich eigentlich umziehen, nahm mich Albert unvermittelt in den Arm. Er presste mich geradezu an sich, fast, als hätte er Angst, dass ich ihm davon laufen könnte. Zärtlichkeiten dieser Art war ich nicht unbedingt gewohnt von Ali, er trat sonst eher leidenschaftlich in Erscheinung denn klammernd, klammernd, dass ich mich ein wenig wie in einem Schraubstock fühlte… Seine Küsse fühlten sich fast an für mich, als wollte er mich auffressen. Ich fühlte mich wieder besser. Und ich wusste genau, dass ich großes Glück gehabt hatte. Sehr großes. Aber warum gebärdete sich mein Mann so ungewohnt? Nur aus der überstandenen Angst um mich heraus? Vorsichtig löste ich mich aus Alis Armen.

„Geht’s dir gut?“ Das erste Mal seit dem Beinahe-Unfall formten meine Lippen wieder Worte. Albert wollte gleich wieder den Arm um mich legen, quasi als Antwort, aber ich schüttelte den Kopf. „Bei mir wird es wieder, lass gut sein, Ali… aber was ist mit dir los?“ Ali lächelte gequält. „Es war furchtbar, das zu sehen. Furchtbar. So als ob sich alles wiederholen würde…“ Ich hob die Augenbrauen. „Wiederholen?“ In dem einen Wort drückte ich nur unzulänglich all die Fragen aus, die in mir aufgetaucht waren. Albert umarmte mich wieder, ich konnte mich nicht wehren. Minuten sagte er kein Wort, drückte mich nur an sich und als er mich wieder los ließ, glaubte ich Tränen in seinen Augen zu sehen.

Minuten später saßen wir in der Küche, Albert trank einen Kaffee und in seinem Gesicht arbeitete es. Er sah an mir vorbei, sein Blick gefangen an einem imaginären Punkt an der Wand gegenüber… Ich sah einmal auf die Uhr. Sollte ich nicht Bea anrufen, dass wir später kommen würden? Alis Gestammel riss mich aus der Überlegung… „…zwanzig Jahre muss es her sein… Alex war ein Schulfreund von mir… Mein bester Freund… Ich konnte ihm vertrauen und er mir… Ein eingeschworenes Team…“ Albert hielt kurz inne. „Im Sommer waren wir oft mit unseren Rädern im Freibad. Einmal musste ich am Abend zurückfahren, weil ich meine Geldbörse liegen hatte lassen. Ich trat in die Pedale um Alex wieder einzuholen. Aber ich schaffte es nicht. Ich sah nur wie Alex von einem Autofahrer abgeschossen wurde. Er hatte keine Chance. Genickbruch…“

Albert atmete schwer. „…Für einen Moment sah es für mich aus wie damals. Der Wagen raste um die Ecke auf dich zu und du hättest nicht ausweichen können. Genau wie Alex…“ Ich nahm Alberts Hand, spürte, wie er zitterte, aufgewühlt durch die Erinnerung. In die kurze Stille hörte ich meine Stimme und sie hatte einen ungewohnten Klang für mich. „Nicht genau, Ali. Denn ich sitze hier, neben dir. Es ist mir nichts passiert, nur meine Jeans sind schmutzig…“ Mein Mann sah mich lange wortlos an, dann nickte er und stand auf. „Ja, du hast Recht, völlig Recht. – Fahren wir?“

© Vivienne

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