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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

03.08.2005, © Vivienne

Die Fingernägel

Helga zog die Gummistiefel aus.
Sie waren schmutzverkrustet.
Von der grünen Farbe war fast nichts mehr zu erkennen.
Sie ging langsam in die Küche.
Rustikal eingerichtet.
Aber solide.
Holte eine Fruchtsaftflasche aus dem Kühlschrank.
Schenkte sich ein Glas ein.
Helga nahm das Kopftuch ab.
Die Locken fielen ihr strähnig ins Gesicht.
Verschwitzt und verklebt.
Helga schüttelte den Kopf.
Sonntagnachmittag.
Wieder so ein Wochenende, das sie bei Karl verbracht hatte.
Um zu arbeiten.
Mehr oder weniger.
Miteinander ausgegangen waren die beiden schon lange nicht mehr.
Genau genommen.
Seit die Herzerkrankung von Karls Vater akut geworden war.
Und er kaum mehr arbeiten konnte.
Mithelfen auf dem Hof.
Karls Stimme riss sie aus den Gedanken.
Wo bist du?
Karl riss die Tür auf.
Warf ihr einen verärgerten Blick zu.
Für so was ist wirklich keine Zeit.
Komm endlich!
Wir haben noch viel Arbeit!

Helga fuhr abends in ihre Wohnung.
Mit dem Fahrrad.
Sie war müde.
Fühlte sich kraftlos.
Ihre Muskeln schmerzten.
Sie stellte das Rad ab und ging zu Fuß in den zweiten Stock.
Fünf Minuten später stand sie unter der Dusche.
Shamponierte ihr Haar.
Helga seufzte laut.
Sie hatte ihre graue Hülle wieder abgewaschen.
Jetzt war sie wieder ein Mensch.
Helga Bödinger.
Die im örtlichen Installationsunternehmen im Büro arbeitete.
Saubere Arbeit.
Saubere Fingernägel.
Natürlich duschte sie auch bei Karl daheim.
Aber es war trotzdem anders.
Sauber wurde sie nur hier.
Richtig sauber.
An ihrem Innersten…

Helga setzte sich vor den Fernsehapparat.
Zippte  durch.
Ihre Gedanken kreisten.
Fast vier Jahre war sie nun mit Karl beisammen.
Und er konnte süß sein.
Auch jetzt noch.
Und gut sah er außerdem aus.
Sehr gut.
Wenn er nicht gerade am Hof in der Arbeitskleidung herumlief.
Der Hof war ihr lange egal gewesen.
Warum auch nicht?
Sie liebten sich ja.
Karl und sie.
Aber seit einem Jahr war sie skeptisch geworden.
Zusehends.
Natürlich hatte auch die schwere Krankheit seines Vaters damit zu tun.
Er war unruhig geworden.
Fahrig.
Und zuletzt sprach er immer öfter von Heirat.
Vom Zusammenziehen und Kinder bekommen.
Helga schloss die Augen.
Sie sah den Kuhstall vor sich.
Den Mist.
Roch förmlich den ganzen Geruch.
Hörten die Kühe muhen.
Es klang bedrohlich.
Und irgendwo der Duft von Heu…

Helga legte die Fernbedienung auf den Couchtisch.
Margot fiel ihr ein.
Margot, ihre Schulkollegin.
Sie hatten sich neulich in der Bezirksstadt getroffen.
Zufällig.
Margot war Kosmetikerin geworden.
In einem tollen Nagelstudio.
Und ihre künstlichen Nägel waren toll.
Schimmerten in blau und silber.
Ihr ganzes Denken signalisierte:
Ich will das auch!
Margot hatte ihren Blick bemerkt.
Ich kann dir das machen.
Gern sogar.
Du kriegst einen Sonderpreis.
Wir haben eine Probieraktion.
Ruf mich doch an!
Helga hatte die Visitenkarte angestarrt.
Immer wieder.
Sie hörte Karls Stimme.
Das ist doch Firlefanz.
Für das haben wir kein Geld.
Außerdem bist du eine Bäuerin!
Die Nägel wären nach ein paar Tagen völlig kaputt!
Dumme Gans.
Lässt dir jeden Blödsinn einreden.

Du bist doch eine Bäuerin!
Helga schlief ein.
Auf der Couch.
Die Sonne weckte sie.
Es war schon spät.
Ruckartig setzte sie sich auf.
Ich bin keine Bäuerin!
Der Gedanke war übermächtig.
Sie musste mit ihm reden.
Mit Karl.
Es ließ sich nicht mehr vermeiden.
Das war nicht ihr Leben.
Vielleicht liebte sie auch Karl nicht genug.
Genug um sich mit der Arbeit zu arrangieren.
Aber jetzt musste sie ihm das sagen.
Wenn nicht jetzt…
…dann nie!
Karl blickte sie unwirsch an.
Was ist los?
Was musst du mit mir reden?
Was ist so dringend?
Fünf Minuten später schwieg er.
Sein Mund war verkniffen.
Dann schnaufte er tief durch.
Dann lässt du uns also im Stich, ja?
Nach vier Jahren und kurz vor der Hochzeit.
Bravo!

Helga war wortlos gegangen.
Keine Diskussionen.
Das brachte nichts.
Aber sie wusste nun.
Mit Karls Liebe war es nicht weit her gewesen.
Du lässt uns also im Stich!
Kein Wort des Gefühls.
Kein „Aber ich liebe dich doch!“
Helga fühlte sich erleichtert.
Irgendwie.
Und trotzdem war sie auch ein wenig traurig.
Viel war von dieser Liebe nicht geblieben…
Sie griff in die Hosentasche.
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
Margots Visitenkarte.
Sie würde gleich einen Termin vereinbaren!

Vivienne

 

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