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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

11.11.2005, © Vivienne

Die Hände gebunden 

Karin Burger saß an ihrem Schreibtisch.
Starrte aus dem Fenster.
Erinnerte sich an das letzte Gespräch.
Das Gespräch mit Anja Kubinsky.
Sie hatte über eine Stunde mit ihr geredet.
Vielleicht auch viel länger.
Frau Burger war müde.
Ihre Augen schmerzten.
Sie nahm die Brille ab.
Schloss die Augen kurz.
Der Mitarbeiterbogen von Frau Kubinsky lag noch immer vor ihr.
Mitte dreißig.
Eine Tochter mit acht Jahren.
Geschieden.
Alleinerzieherin.
Und diese Frau hatte sie eben gekündigt.
Einvernehmlich.
Sie hatte geahnt, dass es so kommen würde.
Bei allem Optimismus.
Den sie immer zu verbreiten gewohnt war.
Karin Burger war immer ein positiver Mensch gewesen.
Zeit ihres Lebens.
Man ändert nichts mit Trübsal.
Oder mit Resignation.
Tatkraft.
Energie.
Und Schwung.
Damit konnte man manches im Leben meistern…
Ihre Devise!

Anja Kubinsky war eine lebenslustige Frau.
Oder man sollte wohl besser sagen:
Ein Teil ihrer Persönlichkeit war lebenslustig.
Denn Anja Kubinsky war gespalten.
Zwischen Lebensfreude und Depression.
Sie hatte Angst vor dem Alter.
Große Angst.
Das hatte Frau Burger immer wieder gespürt.
Wenn sie mit ihr sprach.
Und sie sprach oft mit ihr.
Fast jede Woche gab es längere Gespräche.
Aus den unterschiedlichsten Anlässen.
Frau Kubinsky hielt keine Arbeitszeiten ein.
Kam und ging.
Wann immer sie wollte.
So schien es zumindest.
Ihr Nachtleben fiel zum Teil sehr exzessiv aus.
Voll Alkohol.
Und in Gesellschaft unterschiedlichster Männer.
Männer, die ihr nicht gut taten.
Aber das war der Kubinsky anscheinend egal.

Karin Burger seufzte.
Sie hatte sich bemüht um diese Frau.
Hatte ihr immer wieder die Hand zur Rettung gereicht.
Hatte ihr gut zugeredet.
Und gleichzeitig versucht, zu vermitteln.
Wenn die Kollegen aufbegehrten.
Warum gelten für die eigene Regeln?
Sie kommt oft erst zu Mittag!
Sie telefoniert fast nur privat in der Arbeit!
Wir müssen ihren Job miterledigen!
Das kann doch nicht sein!
Die Leute hatten nicht Unrecht.
Und trotzdem:
Anja Kubinsky bekam von ihr eine Chance nach der anderen.
Sie verstand selber nicht ganz warum.
Zumindest zunächst.
Bis ihr bewusst wurde.
Sie selber, Karin Burger, hatte ihren Sohn auch allein großgezogen.
Ohne Vater.
Unter Not und Entbehrungen.
Oft am Verzweifeln.
Aber ihr Sohn war heute Arzt.
Hatte eine Privatpraxis in Salzburg.
Und sie war stolz auf ihn.
Sehr…

Frau Burger stand auf.
Ja.
Sie glaubte Anja Kubinsky zu verstehen.
Wegen eines ähnlichen Schicksals.
Und doch waren sie zwei verschiedene Menschen.
Völlig verschieden.
Sie, Karin, hatte Entbehrungen auf sich genommen.
Und so manches Opfer.
Und sie war eine disziplinierte Frau.
Aber Anja?
Keine Ahnung was in ihr vorging.
Sie drückte gerne auf die Tränendrüse.
Und wie schlimm es wäre allein mit einem Kind!
Aber für teure Kleider hatte die Alleinerzieherin viel Geld übrig.
Oft auch nur auf Pump…
Karin Burger zerbrach sich oft den Kopf über diese Frau.
Wie sie ihrer Mitarbeiterin auf einen geraden Lebensweg helfen könnte.
Was sie selber deswegen tat, war eine Gratwanderung.
Aber sie hoffte, sie konnte ihr helfen.
Dieser in sich zerrissenen Frau.
Ein Trugschluss.
Karin Burger erinnerte sich an den heutigen Morgen.
Ein Mitarbeiter war aufgebracht zu ihr gekommen.
Ich habe die Kubinsky gestern Nacht gesehen.
In einer Bar.
Dabei ist sie im Krankenstand!
Von Schnupfen oder Fieber keine Spur!

Frau Burger hatte die Kubinsky angerufen.
Und in die Firma zitiert.
Ihre Mitarbeiterin war vor ihr gesessen.
Kalkweiß im Gesicht.
Die Ringe unter den Augen ließen auf eine lange Nacht schließen.
Sie hörte sich die Predigt ruhig an.
Ohne ein Wort.
Sie schirmte sich ab.
Frau Burger spürte das sofort.
Dann unterschrieb die Frau die Auflösung des Dienstverhältnisses.
Und verließ ohne Kommentar das Büro ihrer Chefin.
Karin Burger hatte ihr nachgeblickt.
Sie fühlte sich schlecht.
Schuldig.
Aber was hätte sie tun sollen?
Können?
Sie hatte wirklich alles für Frau Kubinsky getan.
Kaum ein Dienstgeber hätte sich den Aufwand gemacht.
Nein.
Überhaupt keiner.
Sie musste sich nicht schuldig fühlen.
Aber wenn sie an die Tochter der Frau Kubinsky dachte…
Das arme Kind.
Was sollte nur aus der Kleinen werden!
Frau Burger fröstelte.
Aber ihr waren die Hände gebunden…

Vivienne

 

 

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