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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

18.06.2005, © Vivienne

Die Kur

Soll ich dir die warme Hose auch einpacken?
Gustis Stimme klang besorgt aus dem Schlafzimmer.
Harry zog ärgerlich die Stirne kraus.
Seine Frau behandelte ihn immer öfter wie ein Kind!
Die Kur trat er doch morgen an.
Mitten im August!
Was sollte das Gerede?
Nein!
Harry gab sich keine Mühe seinen Ärger zu verbergen.
Hast du überhaupt meine Badesachen eingepackt?
Die brauche ich ganz sicher.
Das Schweigen aus dem Schlafzimmer war eindeutig.
Harry grinste.
Es würde gut sein, ein paar Tage einmal hier wegzukommen.
Weg von Gusti…
Ohne Haferbrei und kluge Sprüche…
Und ohne koffeinfreien Kaffee!
Er seufzte.
Diese Frau war nicht immer ein Honiglecken.
Aber ihre Mutter war doch genau so gewesen…
Das hätte ihn damals warnen müssen!

Der Zug ratterte gleichmäßig dahin.
Harry nickte immer wieder ein wenig ein.
Kurz vor dem Kurort weckte ihn der Schaffner.
Harry blinzelte verschlafen.
Jetzt war er tatsächlich müde geworden.
Er hätte noch lange so weiterdösen können…
Harry packte seine Reisetasche und verließ den Zug.
Das Kurhotel befand sich nur ein paar Minuten vom Bahnhof entfernt.
Er meldet sich bei der Reservierung an.
Und bekam ein Zimmer im dritten Stock zugewiesen.
Harry schnaufte hoch.
Es war heiß heute.
Beim Auspacken der Tasche entfuhr ihm ein ärgerlicher Ruf.
Gusti hatte doch tatsächlich trotzdem die warme Hose dazugelegt.
Diese Frau war unverbesserlich.
Aber wenigstens war das Badezeug auch eingepackt.
Harry trat auf den Balkon.
Eine herrliche Aussicht.
Aber er fühlte sich ein wenig eigenartig.
Als würde er etwas vermissen.
Energisch riss er sich aus seinem Grübeln…
Die Behandlungen würden morgen früh schon beginnen.

Harry saß im Café des Hotels.
Vor sich eine Tasse Verlängerten.
Der Kaffee war bitter.
Er schmeckte ihm nicht.
Dabei hatte er sich so auf unverfälschten Kaffeegeschmack gefreut!
Eine Stimme ließ ihn aufhorchen.
Neu hier?
Der Mann in seinem Alter grinste freundlich.
Setzte sich ohne Umstände dazu.
Ich bin der Heinz.
Harrys Hand wurde fest geschüttelt.
Du schaust aber nicht glücklich aus.
Aber bei dem Kaffee wundert mich das nicht.
Seine Stimme wurde leise.
Also wenn du mich fragst…
Die verwerten hier auch das Abwaschwasser.
Ein bisschen dunkler Farbstoff dazu.
Und fertig.
Harry musste unvermittelt grinsen.
Bald war er mitten im Gespräch mit dem sympathischen Gmundner.
Heinz hatte dieselben Kreuzprobleme wie er.
Ein Schicksalsgenosse.
So ein netter Kerl!
Es tat gut hier jemanden zu kennen.
Hier, wo er sich so verloren vorgekommen war…

Abends klopfte jemand an Harrys Zimmertür.
Heinz.
Er trug einen Korb in der Hand.
Das Abendessen war eine Frechheit.
Findest du nicht auch?
Harry brachte kein Wort heraus.
Er starrte auf den Korb, aus dem es verführerisch roch.
Heinz stellte ihn auf den Tisch.
Voilà.
Schweinsstelze.
Noch heiß.
Gebäck.
Senf.
Gurkerl.
Alles was das Herz begehrt.
Und ein paar Flaschen Bier.
Er nickte Harry zu.
Was ist?
Hast du auch Hunger?
Harry nickte wortlos…

Heinz war ein echter Glücksfall für Harry.
Und er hatte Ideen, von denen er, Harry, nur träumen konnte.
Ein Abend im Wirtshaus.
Gutes Essen jeden Tag!
Ein paar Flaschen guten Weines.
Alles Mögliche.
Harry war es ein Rätsel, wie Heinz es anstellte.
Etwa, dass sie sich unentdeckt aus dem Kurhotel schleichen konnten.
Und auch wieder rein.
Nicht nur einmal.
Und wie organisierte er nur immer das feine Essen?
So gut hatte es Harry noch nie geschmeckt.
Und dazu erzählte Heinz so viel.
Köstliche Anekdoten.
Harry lachte oft Tränen.
Nicht im Traum hätte er gedacht, dass er hier so viel Spaß haben würde.
Neben Strombehandlungen.
Massagen.
Schlammpackungen,
Hier hatte er einen Freund gefunden.
Aber diesen Abend wartete er schon eine Weile auf Heinz.
So spät war der noch nie aufgetaucht.
Schließlich stand er auf.
Er würde jetzt nachsehen.
Vielleicht schlief Heinz aber auch nur…

Heinz lag am Boden.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Harry half ihm hoch.
Kramte nach den Angaben seines Freundes in der Toilettetasche.
Holte eine dunkle Kapsel aus einer Medikamentenschachtel.
Heinz schluckte sie.
Nach zehn Minuten entspannte sich sein Gesicht wieder.
Er stand auf und ging ins Badezimmer.
Harry folgte ihm.
Was ist los mit dir?
Das waren doch nicht die Bandscheiben?
Sollten wir nicht jemand rufen?
Heinz drehte sich um zu ihm.
Verzweiflung in den Augen.
Mir kann keiner mehr helfen.
Es stimmt schon, ich habe kein Rückenleiden in dem Sinn.
Resignation klang in seiner Stimme.
Ich habe Krebs.
Vor einem Jahr wurde ich an der Prostata operiert.
Die Chemotherapie war der reine Horror.
Aber sie hat nichts gebracht.
Leider.
Der Krebs ist zurückgekehrt.
Kurz vor der Kur habe ich es erfahren
…
Harry blickte betroffen zu Boden.
Drückte die Hand seines Freundes.
Er wusste nicht, was er sagen sollte…

Harry und Heinz standen am Bahnhof.
Ihre gepackten Reisetaschen neben sich.
Der Zug von Heinz würde in ein paar Minuten einfahren.
Harry hatte noch länger Zeit.
Heinz grinste wieder wie zu Beginn der Freundschaft.
Aber Harry konnte er nicht mehr täuschen.
Seine Augen verrieten ihn.
Kann ich dich einmal wo erreichen?
Vielleicht kann ich dich besuchen?
Harry versuchte seine Betroffenheit zu verbergen.
Heinz schüttelte den Kopf.
Lass es gut sein.
Seine Stimme klang herzlich.
Willst du mir wirklich beim Sterben zusehen?
Das möchte ich nicht…
Er starrte ins Leere.
Schüttelte Harrys Hand.
Du hast mir so viel gegeben.
Jeden Streich mitgemacht.
Das waren vielleicht die letzten schönen Wochen meines Lebens.
Behalt mich so in Erinnerung wie ich war, ja?
Und denk an mich…

Harry stieg aus dem Zug.
Gusti winkte ihm schon von weitem.
Da bist du ja!
Wie geht es dir?
Warum hast du nie angerufen?
Harry fühlte sich wie überrollt.
Aber Gusti war nun mal so.
Nie anders gewesen.
Er ließ sich umarmen.
Küssen.
Es dauerte eine Weile, bis seiner Frau das Schweigen auffiel.
Du bist aber ruhig!
Hast du gar nichts zu erzählen?
Passt auch alles?
Willst du vielleicht was essen?
Sie verschwand wieder in der Küche.
Harry blickte ihr nach.
Der Alltag hatte ihn wieder.
Aber er hatte sich verändert.
Drei Wochen mit einem Fremden, den er nie wieder sehen würde.
Und er sah seine Welt mit anderen Augen.
Auch dankbar.
Heinz würde sterben.
Vielleicht bald.
Auch ihn konnte es treffen.
Überraschend.
Man musste sich dessen immer bewusst sein…

Vivienne

 

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