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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

30.07.2005, © Vivienne

Gebrochene Flügel

Astrid stand vor dem Fenster.
An der Tür stand ihre Reisetasche.
Fertig gepackt.
Wartete auf das Taxi.
Sie dachte nach.
Hatte sie noch etwas vergessen?
Etwas Wichtiges?
Unvermittelt musste sie lächeln.
Nein.
Sie hatte nichts vergessen.
Nichts Wichtiges…
Motorengeräusch ließ sie aufhorchen.
Der Nachbar fuhr in die Garage.
Falscher Alarm.
Astrid zuckte die Achseln.
Egal.
Nach so vielen Jahren kam es auf die paar Minuten nicht mehr an.
Wirklich nicht mehr.
Irgendwie war sie aufgeregt.
Fast wie ein Schulmädchen.
Diese seltsame kribbelige Nervosität.
Fast wie vor dem ersten Date.
Sie horchte in sich hinein.
Lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gekannt.
In ihrem Leben.
Bestimmt von Stagnation…

Georg kam ins Zimmer.
Er starrte sie an.
Sie konnte in seinem Gesicht die Enttäuschung lesen.
Und die Worte.
Sie tut es wirklich.
Ciao, Georg.
Astrid bemühte sich, nett zu klingen.
Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu.
Georg schüttelte den Kopf.
Du kannst immer wieder kommen.
Weißt du das?
Jederzeit.
Wann immer du möchtest.
Er wandte sich ab.
Ein würgendes Schluchzen entrang sich seinem Hals.
Dann lief er aus dem Zimmer.
Astrid atmete tief durch.
Georg hatte es geschafft.
Im letzten Augenblick.
Sie fühlte sich schuldig.
Zumindest ein wenig.
Astrid horchte nach draußen.
Das Taxi fuhr vor.
Astrid griff mechanisch nach der Tasche.
Dann lief sie aus dem Haus.
Auf keinen Fall Georg noch einmal sehen…!

Der Chauffeur war wortkarg.
Das Radio verbreitete Schlagermusik.
Ö2.
Astrid versuchte sich abzulenken.
Und musste doch an Georg denken.
An den jungen Mann, der er gewesen war.
Lebendig.
Aufgeweckt.
Kreativ.
Und wie sie sich in ihn verliebt hatte.
Keine zwanzig Jahre alt.
Wie sie zu ihm gezogen war.
Ins Haus.
Zu seiner nörglerischen Mutter.
Eine richtige Glucke.
Nach dem Tod des Mannes fast unerträglich geworden.
Georg veränderte sich.
Oder war es vielleicht einfach so?
Zeigte er nur seine Maske nicht mehr?
Waren die Wärme und die Herzlichkeit nur Fassade gewesen?
Oder ein Versuch, selber zu fliehen?
Aus der Eintönigkeit?
Aus der Leere daheim?
Astrid hatte sich bald wie in einem Käfig gefühlt.
Wie in einem gläsernen Palast.
Zu dem es nur einen Eingang.
Aber keinen Ausgang gab.
Kein Streit.
Auch nicht mit der Schwiegermutter.
Aber Kälte.
Die sie zusehends auffraß.
Und sie merkte.
Sie begann sich zu verändern…

Astrid blickte aus dem Autofenster.
Das Taxi stand in einer Schlange vor einer Ampel.
Manchmal hatte sie sich gefühlt wie im freien Fall.
Irgendwann musste sie aufprallen.
Hart und fest.
Klemens fing sie auf.
Vor der harten Landung.
Klemens.
Ein Arbeitskollege.
Geschieden.
Und ein guter Zuhörer.
Anfangs hatte sie sich nur ausgeweint bei ihm.
Bei einem Kaffee.
Oder einem Spaziergang.
Gefühle hatten sich nur langsam entwickelt.
Zunächst.
Klemens war selber beziehungsgeschädigt.
Gezeichnet von einer unglücklichen Ehe.
Wusste oft selber nicht, was er wollte.
Aber er hatte ihr wieder aufgeholfen.
Ihren lahmen Flügeln wieder Kraft gegeben.
Allein dafür war sie ihm dankbar.
Auch wenn ungewiss war, was noch werden würde…
Aus ihr und aus ihm…
Klemens war eine tolle Starthilfe gewesen.
In jedem Fall.
Eine Schulter zum Anlehnen.
Jemand zum Reden.
Mit Georg hatte sie sich schon lange nicht mehr ausreden können.

Das Taxi fuhr in den Hof ein.
Astrid zahlte ihn.
Und stieg aus.
Sie sah sich um.
Kein Vorstadthaus im Grünen.
Aber dafür Nähe zum Stadtzentrum.
Sie würde sich daran gewöhnen…
Und an manches mehr…
Sie sperrte die Eingangstür auf.
Fuhr mit dem Lift in den vierten Stock.
Die Wohnung gehörte einer Freundin.
Silvia war Lehrerin.
Sie ging ein Jahr nach Frankreich.
Vielleicht auch länger.
Und überließ ihr für die Zeit die Wohnung.
Astrid war dankbar dafür.
Unendlich dankbar.
Eine möblierte Wohnung.
Mehr brauchte sie nicht für den Anfang.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss.
Drehte ihn um.
Trat ein.
Es roch ein wenig fremd.
Eine Mischung aus Putzmittel und Möbelpolitur.
Silvia hatte noch einmal sauber gemacht.
Astrid atmete tief durch.
Ich bin daheim!

Für Bella!

Vivienne

 

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