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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

05.06.2005, © Vivienne

Ich lebe durch dich

Primar Holst verlies den OP.
Er schnaufte hörbar durch.
Weiter vorne im Gang warteten die Eltern des Patienten.
Er hatte sie sofort wieder erkannt.
Herr Marchinger stand gleich auf.
Herr Dr., wie geht es unserem Sohn?
Wie hat er den Eingriff überstanden?
Der Chirurg blieb stehen.
Eigentlich hatte er keine Lust zu reden.
Aber in diesem besonderen Fall…
Ihr Sohn liegt auf der Intensivstation.
Es geht ihm den Umständen entsprechend nicht schlecht.
Aber die nächsten Tage werden entscheiden…
Primar Holst machte eine Pause.
Nach der achtstündigen Operation hatte er das Bedürfnis nach einem Kaffee.
Schwarz und ohne Zucker.
Und sehr stark.
Herr Marchinger sah ihm direkt ins Gesicht.
Welche Chancen geben Sie ihm?
Holst spürte Unmut in sich aufsteigen.
So waren sie, diese Angehörigen.
War er vielleicht Gott?
Es ist zu früh etwas Konkretes zu sagen…
Seine Stimme klang nicht einmal ungehalten.
Fand er zumindest.

Frau Marchinger beobachtete ihren Sohn in der Intensivstation.
Sie hatte Tränen in den Augen.
So groß und so stark war er immer gewesen.
Voller Elan und Kraft.
Und jetzt lag er in diesem Bett.
Völlig hilflos.
Überall Schläuche.
Bluttransfusionen.
Ein Kontrollschirm.
Alles wurde überwacht.
Herzschlag.
Blutdruck.
Bei der geringsten Abweichung meldete sich ein Signalgeräusch.
Völlig ungerührt von dieser Tatsache gingen die Pfleger ihrer Arbeit nach.
Nicht die geringste Spur von Hektik.
Und sie zitterte.
Frau Marchinger spürte eine tiefe Angst in sich.
Angst, das Signalgeräusch zu hören.
Angst, dass bei ihrem Sohn die Atmung aussetzen würde.
Sie konnte es nicht in Worte kleiden.
Aber die Angst machte sie kaputt.
Ließ ihr Denken purer Hysterie weichen…

Herr Marchinger trat zu dem behandelnden Arzt.
Hat er es überstanden?
Dr. Karrer sah an ihm vorbei.
Es geht ihm nicht schlecht.
Sie sollten sich etwas in Geduld fassen.
Der Ausgang einer derartigen Operation steht nicht nach ein paar Tagen fest.
Ich muss Ihnen wohl nicht sagen, was alles eintreten kann…
Es sieht aber nicht übel aus im Moment.
Aber Sie müssen ihm Zeit lassen.
Karrer ging weiter.
Er presste die Lippen zusammen.
Die Leute glaubten wohl alle, ihre Anverwandten wären die einzigen Patienten.
Die Marchingers sollten mal froh sein, dass ihr Sohn noch lebte.
Vor einer Woche hatte er, Karrer, überhaupt keine Chance mehr gesehen.
Es war reines Glück gewesen…
Marchinger blickte ihm wütend nach.
Arroganter Pinsel!
Dir ist doch unser Sohn so was von egal!
Seine Hand zitterte.
Und er spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
Wie so oft seit der Erkrankung seines Sohnes.
Er müsste endlich wieder einmal durchschlafen.

Jochen Marchinger schlug die Augen auf.
Er versuchte sich zu erinnern.
Wann war er operiert worden?
Am Vormittag hatte er die Verständigung bekommen.
Endlich konnte er operiert werden.
Endlich…!
Was war das für ein Tag gewesen?
Montag?
Oder doch schon Dienstag?
Sein Kopf schmerzte.
Es fiel ihm nicht ein.
Und was für ein Tag war heute?
Ein Pfleger ging an ihm vorbei.
Er lächelte.
Geht’s wieder?
Jochen leckte sich die trockenen Lippen.
Welcher Tag ist heute?
Seine Stimme klang kratzig.
Irgendwie undeutlich.
Als käme sie nicht von ihm.
Der Pfleger nickte.
Heute ist Samstag.
Jochen schloss die Augen.
Der eine Satz hatte ihn viel Kraft gekostet.
Eine halbe Ewigkeit lag zwischen dem Jetzt und seiner letzten Erinnerung.
Als er in den Operationssaal geschoben worden war…

Jochen hätte seine Eltern am liebsten fortgeschickt.
Ihre übertriebene Fürsorglichkeit!
Er ertrug sie nicht.
Er wollte allein sein.
Er wollte seine Ruhe haben.
Fast ständig musste er an sie denken.
Und er versucht sich vorzustellen, wie sie ausgesehen hatte.
Im Grunde wusste er momentan nur ihren Namen.
Beate Haslinger.
Und wie alt sie gewesen war.
Siebenundzwanzig.
Er war zwei Jahre älter.
Aber ihr Herz schlug jetzt in ihm.
Der Gedanke setzte ihm zu.
Mehr als er erwartet hatte.
Während der ganzen Wartezeit auf das Spenderherz hatte er diese Überlegung verdrängt.
Vielleicht auch, weil er nie wirklich mit einem Herz gerechnete hatte.
Er war sich sicher gewesen sterben zu müssen.
Mit nicht einmal dreißig Jahren.
Nach einer Herzmuskelentzündung.
Alles nur wegen einer Grippe, die er ignoriert hatte…

Jochen betrat den Friedhof.
Die Sonne schien.
Es tat gut, die Wärme zu spüren.
Nach den unendlichen Wochen im Spital.
Nach der Rehabilitation.
Endlich die vage Hoffnung, wieder arbeiten gehen zu können.
Nächsten Monat.
Die vielen Gräber ließen ihn erschauern.
Er könnte auch schon hier liegen.
Einige Zeit war er davon überzeugt gewesen.
In der Verwaltung hatte er erfahren, wo sie lag.
Er fand sich schnell zurecht.
Und schließlich stand er vor dem Grab.
Ein Familiengrab.
Beate Haslinger stand da.
8. März 1976 – 12. April 2003
Durch einem tragischen Autounfall aus unserer Mitte gerissen…
Ein Foto befand sich auf dem Grabstein.
Eine hübsche blonde Frau.
Ein Blick voller Lebensfreude.
Jochen gefiel sie.
Sie hatte so etwas Lebendiges…
Das hörte sich makaber an.
Er wusste es.
Aber lebte sie nicht in ihm?
Und er durch sie?
Für immer miteinander verknüpft…

Vivienne

 

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