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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

17.09.2005, © Vivienne

Kalter Rauch 

Dr. Wagner starrte aus dem Fenster.
Der letzte Patient war vor einer halbe Stunde gegangen.
Wie geht es Ihnen?
Brauchen Sie Medikamente?
Dr. Wagner hörte seine Stimme.
Oberflächlich.
Halbherzig.
Wie immer.
Was machen Ihre Schlafstörungen?
Brauchen Sie Tabletten?
Die Frau hatte eifrig genickt.
Zuletzt ging es mir gut.
Aber verschreiben Sie mir bitte eine Packung.
Falls ich sie wieder brauche.
Nach fünf Minuten hatte sie das Sprechzimmer verlassen.
Die Ordination war wieder gerammelt voll gewesen.
So als ob nichts passiert wäre.
Die Leute vergessen schnell.
Und hätte er es ahnen können?
Kann ein Arzt die Seele eines Patienten ergründen?
In ihn hineinsehen?
Bei mehr als 7.000 Patienten.
Von denen nicht wenige gar nicht regelmäßig kamen.
Dr. Wagner zündete sich eine Zigarette an.
Normalerweise tat er das nicht.
Er hasste kalten Rauch.
Der nach Tagen noch in der Luft hing…

Was ist, Claudia?
Dr. Wagner wandte sich unwirsch an seine Vorzimmerdame.
Sie hatte ihn hektisch angerufen.
Ernst Gruber.
Der Mann mit der Psychose.
Ich habe ihn am Apparat.
Es geht im schlecht, sagt er.
Angstzustände.
Und Stimmen hört er auch wieder.
Er lässt fragen ob wir ihn einschieben können
.
Dr. Wagner zitterte vor unterdrückter Wut.
Sein Klassepatient mit der Nervenentzündung am Rücken musste jetzt warten.
Die Ordination ist voll.
Ich kann mich nicht vierteilen.
Am besten er geht ins Spital.
In die Nervenklinik.
Ich schreibe ihm eine Überweisung.
Zum Abholen.
Mehr kann ich nicht tun für ihn
.
Claudia schnaufte.
Das habe ich ihm auch gesagt.
Aber er will nicht in die Nervenklinik.
Er fühlt sich dort nicht verstanden.
Er möchte mit Ihnen reden, Herr Dr.

Dr. Wagner ballte die Faust.
Ich möchte auch viel.
Wir können ihn heute unmöglich einschieben.
Du weißt, dass meine Frau und ich wegfahren.
Gleich nach der Sprechstunde.
Sag ihm das Ganze noch einmal in aller Ruhe.
Und jetzt wünsch ich keine Störung mehr!
Krachend legte er den Hörer auf.
Entschuldigen Sie das Telefonat, Herr Hellwanger.
Devot wandte er sich an den Privatpatienten.
Aber jetzt wird uns niemand mehr stören.
Sagen Sie mir, wo Sie die Schmerzen spüren…
Hr. Hellwanger setzte ein gepresstes Lächeln auf.
Sie sind noch stärker geworden.
Ich kann mich kaum noch bewegen.
Wagner nickte.
Das kriegen wir hin.
Keine Sorge…
Machen Sie den Oberkörper frei.
Und legen Sie sich auf die Liege dort.

Dr. Wagner?
Claudia, die Sprechstundenhilfe, klang verunsichert.
Wagner reagierte ungehalten.
Was ist los?
Claudia druckste.
Die Polizei ist da.
Ein Herr Karlinger.
Wagner schnaufte laut.
Unmöglich noch ungestört arbeiten zu können.
Was will der Herr Karlinger?
Er soll warten!
In fünf Minuten habe ich Zeit für ihn.
Wagner empfing den Beamten frostig.
Ich habe wenig Zeit.
Was ist so dringend?
Karlinger räusperte sich.
Es geht um einen Ihrer Patienten.
Ernst Gruber.
Was können Sie mir von ihm sagen?
Wagner überlegte.
Der Name kam ihm bekannt vor.
Dunkel.
Er ging zum PC.
Rief die Krankengeschichte ab.
Der Mann hat eine Psychose.
War mehrmals in Anstaltspflege.
War unregelmäßig bei mir.
Was ist mit ihm?

Karlinger blickte den Arzt fragend an.
Er ist am Wochenende ausgerastet.
Hat sich betrunken.
Und einige Leute in einem Lokal angepöbelt.
Schließlich lief er wieder davon.
In der Nacht ist er dann aus dem Fenster seiner Wohnung gesprungen.
Er war sofort tot.
Wagner erstarrte.
Grubers Anruf fiel ihm wieder ein.
Das hatte er nicht geahnt.
Nein…
Heiser antwortete er.
Ja, er war bei mir in Behandlung.
Aber nie suizidgefährdet.
Nicht dass ich wüsste.
Nahm leider seine Medikamente sehr unregelmäßig.
Ein Symptom seiner Krankheit.
Aber aggressiv kam er mir nie vor.
Allerdings die Tabletten mit Alkohol…
Schwer abzuschätzen.
Karlinger machte sich Notizen.
Ihre Vorzimmerdame meinte, er hätte Freitag angerufen.
Wollte noch einen Termin.
Dr. Wagner ballte die Fäuste im Arztkittel.
Das stimmt.
Aber ich konnte ihn nicht einschieben.
Leider.
Ich habe ihm geraten ins Spital zu gehen.
Die Überweisung hätte er bei mir bekommen.
Trotzig sah er nach einer Pause auf.
Wissen Sie eigentlich wie viele Leute täglich anrufen?
Wegen eines dringenden Termins?
Dieser tragische Fall war nicht vorherzusehen.
Ungerührt steckte Karlinger seinen Notizblock ein.
Das habe ich auch nicht behauptet.

Dr. Wagner dämpfte seine Zigarette aus.
Ernst Gruber.
Er wusste nicht einmal genau, wie er ausgesehen hatte.
Er konnte sich nicht mehr erinnern…
Gruber war einer von vielen gewesen.
Und er, Wagner, konnte sich nicht jeden merken.
Der Suizid war nicht vorhersehbar gewesen…
Das hatte er der Polizei gesagt.
Was hätte er tun sollen?
Verdammt!
Es war doch nicht seine Schuld!
Er schreckte zusammen.
Das Telefon läutete.
Vera.
Seine Frau.
Ganz sicher.
Sie wollt wissen, wo er bliebe…
Wagner ließ es läuten.
Seine Gedanken hielten ihn fest.
Er wollte doch nur ein Wochenende weg fahren!
Ausspannen.
Raus aus dem Alltagstrott.
An diesem Wochenende war Gruber aber auch aus dem Fenster gesprungen.
Verzweifelt.
Orientierungslos.
Halb verrückt vor Angst…
Wagner hörte das Telefon nicht mehr.
Aber der Rauch seiner Zigarette stieg ihm in die Nase… 

Vivienne

 

 

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