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 Home Prosa Aus dem Hinterhof der Seele

20.06.2005, © Vivienne

Routinefall

Kurt Weidinger seufzte auf.
Kurz nach 22:00 Uhr erst.
Er saß in der Bezirksleitstelle des Roten Kreuzes.
Seit 8:00 Uhr früh im Übrigen.
Weil ein Kollege ausgefallen war.
Und ehrenamtlich.
Schließlich arbeitete er auf der Gemeinde.
Da gehörte das soziale Engagement einfach dazu.
Der Tag war ohne Ereignisse verstrichen.
Einmal falscher Alarm am frühen Nachmittag.
Eine Pensionistin hatte versehentlich den Alarmknopf gedrückt.
Und ein Schüler war beim Schifahren auf dem örtlichen Hügel gestürzt.
Der linke Arm war verstaucht.
Und die Rippen geprellt.
Der Bub war schon wieder daheim…
Weidinger sah fast mechanisch wieder auf die Uhr.
Wenn das so weiterging, konnte er sich Mitternacht einmal hinlegen.
Für eine Stunde oder zwei.
Sein Schlaf war nie tief, wenn er auf Bereitschaft war.
Das war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Die Tür wurde krachend aufgerissen.
Der Kollege Karl Margreiter trat polternd herein.
Klopfte sich den Schnee von den Schuhen.
Jetzt im Jänner noch so viel Schnee.
Mei, ein Glühwein wär jetzt gut!
Meinst ned?

Weidinger schwieg.
Dafür widmete er sich dem Kuchen, den Kollege Margreiter hingestellt hatte.
Fast noch warm.
Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.
Schlürfte das heiße Getränk bedächtig.
Der Alarm riss ihn aus den Gedanken.
Eine hektische Frauenstimme meldete sich.
Weidinger hatte Routine.
Fast zwanzig Jahre war er regelmäßig im Einsatz.
Er beruhigte die Frau.
Wie war der Name?
Weidinger zuckte zusammen.
Dann rief er Margreiter zu sich.
Missmutig trat dieser näher.
Ist es was Dringendes?
Vor zehn Minuten habe ich erst den Mantel ausgezogen…
Und vorher den ganzen Abend nichts los…
Wo brennt es denn?
Weidinger sah ihn nicht an.
In der Höllenau.
Der Kollege grinste.
Also ein Geldiger.
Und wer ist es?
Weidinger warf ihm einen stechenden Blick zu.
Der Pfisterer Sepp…

Margreiter saß sinnierend im Wagen.
Ein Zivildiener lenkte den Wagen.
Ein jüngerer Kollege saß schweigend weiter hinten.
Margreiter dachte nach über Josef Pfisterer.
Den größten Schistar, den der Ort je hervorgebracht hatte.
Und gleichzeitig sein bester Freund.
Landesmeister.
Staatsmeister.
Auch im Weltcup erfolgreich.
Wenn auch immer ein wenig im Schatten eines Karl Schranz.
Oder eines Alfred Matt.
Eine Knieverletzung beendete die Karriere des hoffnungsvollen Läufers.
Zu früh.
Aber Pfisterer war nicht dumm.
Er machte eine Schischule auf.
Und später noch ein Hotel.
Zuerst zog sein Ruf als Schiläufer die Touristen an.
Später dann sein PR-Talent.
Einige Male verhandelte er sogar mit dem ÖSV.
Pfisterer hatte große Pläne.
Er träumte davon, den Schiweltcup in seinen Geburtsort zu holen…
Viele Ideen.
Und nichts als Arbeit.
Pfisterer kannte keine Ruhepausen…

Der Zivildiener fuhr in den Hof des Hauses ein.
Die drei Männer stiegen aus.
Eine Trage in den Händen.
Die Tür öffnete sich.
Eine grauhaarige Frau öffnete.
Ihr Gesicht war von Furchen und Falten zerteilt.
Gott sei Dank seid’s da.
Es geht ihm gar nicht gut…
Margreiter grüßte.
Er merkte, wie er sich selber zurücknahm.
Einen Wall um sich errichtete.
Sich abschottete.
Wortlos ging er die Stufen in den ersten Stock hoch.
Oft war er schon hier gewesen.
Aber im Grunde immer privat.
Bis zum letzen Sommer.
Damals hatte der Sepp den ersten Herzinfarkt erlitten.
Auch an diesem Tag hatte er, Margreiter, Dienst gehabt.
Und er erinnerte sich an seine verzweifelte Angst um den Freund.
Die er hinter der Maske der Routine zu verbergen versuchte.
Pfisterer ging es damals schlecht.
Sehr schlecht.
Und nur wenig besser als er wieder heim kam.
Trotz der Behandlung in der Innsbrucker Spezialklinik.

Margreiter betrat das Schlafzimmer.
Sein Freund röchelte.
Die Frau flüsterte tränenerstickt.
Er kriegt kaum noch Luft.
Schon den ganzen Abend.
Margreiter machte das Licht an.
Ja, was machst denn  du für Sachen?
Wolltest wieder einmal das Blaulicht sehen?
Seine Stimme sollte fröhlich klingen.
Und beruhigend.
In Wirklichkeit konnte er die Sorge kaum verbergen.
Pfisterers Gesicht war blau angelaufen.
Mühsam hob er den Kopf.
Red ned so gschert.
Sterben werde ich.
Das weißt du genau.
Pfeifend holt er Luft.
Der Blutdruck war schlecht.
Der Puls ganz schwach.
Kaum tastbar.
Sauerstoff.
Margreiters Stimme war wieder ganz Routine.
Der Zivildiener legte die Gazemaske auf.
Margreiter wandte sich ab.
Die beiden Kollegen trugen seinen Freund mit der Trage nach unten.
Brachten ihn sicher im Wagen unter.
Das Bezirksspital hatte Aufnahme.
Sie wurden bereits erwartet.
Margreiter stieg ein.
Warf einen Blick auf seinen Freund.
Der hatte die Augen geschlossen.
Nur sein rasselnder Atem verriet, dass er noch lebte.
Der Zivildiener ließ den Motor an.
Margreiter starrte stur gerade aus.
Heute Abend hasste er diese Arbeit…

Vivienne

 

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